AUGENBLICKE. ZUNGENSPIELE

KRISTINA BAUM

Nach einem traumatischen Erlebnis begeht das fünfjährige Kind eine furchtbare Tat. Es hat die Ereignisse verdrängt, dank der Fürsorge seiner Mutter, der Herzlichkeit seiner Tante, der Freundschaft mit dem Cousin Jan und der kleinen Freundin Biggi.
Jan, Brigitte und Kristina besuchen von der 9. Klasse an bis zum Abitur die Pestalozzischule. Dort treffen sie unter anderem auf Ira, Marika und Vera, die Hauptfiguren aus den Bänden 1,3 und 4 von Flut der Jahre.
Das Jahr 1961 prägt ihre Jugend, zwingt sie zu Entscheidungen. Kristina liebt David, der für seine Musik alles aufs Spiel setzt.
Als in der Stadt eine Hepatitis-Epidemie grassiert, muss Kristina wochenlang auf einer Isolierstadion liegen. Erinnerungen an ihre frühe Kindheit suchen sie heim. Nur mit Hilfe ihrer Therapeutin, der Liebe zu David und der Freundschaft mit Jan und Ira gelingt ihr die Genesung.

AUGENBLICKE. ZUNGENSPIELE
L E S E P R O B E

Sie sagte, ich soll mir was Gutes tun und an meine Kindheit denken. Sie wusste nicht, was sie damit anrichtete. Ich auch nicht. War da Gutes? Es war, wie es war, und ich beklagte mich nie. Hatte ich irgendwo gelesen. Vieles in meinem Kopf hatte ich irgendwo gelesen.
Sie sagte, ich soll mich an meine ersten Bilder erinnern. Sie meinte die im Kopf. Das konnte ich gut. Es waren Bilder, die ich niemandem zeigen musste. Auch ihr nicht. Ich konnte alles sehen, aber ich musste nicht über alles reden. Erinnern in Bildern fiel mir leicht.

Tanz mit mir

Als ich aus der Klinik für Bekloppte kam, fühlte ich mich krank im Kopf. Meine Nervenbahnen waren ein Spinnennetz, in dem ich mich jeden Morgen wieder selbst gefangen nahm. Mich interessierte nicht, was in der Akte bei Dr. Fromm stand. Gutes aus meiner Kindheit? Es war, wie es war, und ich beklagte mich nie. Auch nicht bei ihr.
War mit Sicherheit kein neuer Satz. Vieles in meinem Kopf hatte ich aus Büchern oder von Leuten, die mir jetzt nichts mehr bedeuteten. Mein wahres Problem lag in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Wie sollte ich die nächsten Wochen, Monate überstehen? Die verlorene Zeit aufholen? Die besten Jahre, so verrückt sie auch waren, lagen hinter mir.
Dr. Fromm hatte mich aus ihrer Ambulanz ohne Hausaufgabe entlassen. Ich hätte gerne irgend was abgearbeitet. Erledigt. Ich fürchtete mich vor der Nacht.
Nicht, dass ich früher mal Angst gehabt hätte, allein zu sein. Ich saß in der kalten Mansarde, trank eine Tasse Wald- und Wiesentee nach der anderen, starrte aus dem Fenster über die Dächer des Hinterhauses, des Nordbades, der südlichen Neustadt bis zur anderen Elbseite. Dann in den kalten Sternenhimmel. Er erinnerte mich an den Sommer, an David und die anderen. Ich ertrug es nicht mehr, Bilder im Kopf zu speichern. Bilder waren das Dynamit, und mein Kopf war einer von den Blindgängern aus dem letzten Krieg. Die Bauleute fanden sie massenweise im Stadtzentrum, da, wo die Gewölbe der letzten Ruinen frei gebaggert wurden, um Platz zu schaffen für neue Fundamente.
Das Alte einfach weg sprengen. Die Bomben hochgehen lassen. Ein Gedanke, der mir so normal vorkam, dass ich ihn aufschreiben wollte, um ihn nicht zu vergessen.
Ich nahm ein unbenutztes dickes Schreibheft, eins mit zartblau linierten Seiten im biegsamen schwarzen Kunststoffeinband. Irgendwann, irgendwo musste ich einen Anfang machen. Also entschloss ich mich, aufzuschreiben, was ich niemandem sagen konnte. Wer will schon verrückt genannt werden? Ich war allein in der Wohnung unter dem Dach. In diesem Heft waren meine Gedanken sicher.
Die ersten Wörter kamen von allein aufs Papier.
Freitag, der 29. Dezember 1961. Dieses Jahr hatte wie immer begonnen. Wir feierten bei Traudel Silvester. Mit dem Kartoffelsalat ihrer Mutter, mit Sekt von meiner, mit Schallplatten- und Radiomusik bis zur Stunde vor Mitternacht. Niemand verließ sich auf die Standuhr in der Wohnstube. Auch meine Mutter schaute nicht auf ihre Armbanduhr, sie wartete wie wir alle auf den Radiosprecher.
Willkommen im Neuen Jahr. Sie hören nun Glockentöne aus dem Kreml in Moskau, aus Berlin, Prag, Warschau, London, Paris, vom Petersplatz in Rom.
Einmal im Jahr waren wir über das Radio mit der Welt verbunden. Dann drehte sich die Erde weiter und wir uns um uns selbst.
Bald ist es wieder so weit. Wir springen auf den nächsten Zug und glauben wir lassen die Vergangenheit hinter uns. Aber dieser Zug ist endgültig abgefahren. Wir hängen nur immer wieder neue Wagen an den alten.

Geschichten passieren jedes Jahr. Ich wusste es. Es gibt gewöhnliche, die es nicht wert sind, wiederholt zu werden. Sie wiederholen sich ständig selbst. Anders Geschichten, die mit festem Griff ins Leben hineingreifen.
Die erste, wirklich wichtige von den vielen im Jahr 61 begann nicht mit Glockenläuten. Es klingelte an der Tür. Meine Freundin Biggi. Mama Tilde ist nur eine Stunde unterwegs. Wir müssen uns beeilen.
Brigitte hatte Gründe. Sie konnte sehr überzeugend sein. Sie hatte einen Plan.

Eine andere Geschichte war, dass wir im Sommer zum ersten Mal in unserem Leben das Meer sehen durften, die See zwischen Kap Arkona und Sassnitz. Im Jahr 61 verloren wir unsere Unschuld, jede auf andere Weise. Wir waren verrückt nach Leben. Wir hatten nicht die Spur von einer Ahnung.
Unsere Entscheidung. Alles hätte ganz anders kommen können.
Meine beste Freundin liebte ihre langen strohgelben Locken. Sie waren nur zu bändigen, wenn sie fest geflochten wurden.
Ihre Mutter erledigte das, damals, als wir in der Görlitzer Straße zu Grundschule gingen. Auch dann noch, als wir eineinhalb Jahre Oberschule hinter uns hatten. Wegen der Zöpfe mussten Mutter und Tochter von Montag bis Samstag jeden Morgen eine halbe Stunde eher aus dem Bett. Der Unterricht begann um acht. Brigitte und ich stiegen kurz vor halb in die Straßenbahn-Linie 13.

Die Pestalozzi-Oberschule lag stadtauswärts an der Großenhainer Straße. Der Krieg hatte dieses Viertel und seine großspurigen Gründerzeit-Häuser beinahe verschont. Auch die Schule war unversehrt, das schönste Gebäude zwischen Nord-Bahnhof und Stadtrand, was nicht viel bedeutete. Sie wurde um 1900 mit Sandstein, Ziegeln, Säulen und massigen Steinmetzarbeiten erbaut. Für die Kinder der Gründerzeit-Gewinner.
Sechzig Jahre später gingen im selben Haus deutsche Verlierer ein und aus, waren den Kriegen entkommen oder wurden knapp nach dem letzten geboren. Jeden Morgen sahen wir über dem Portal des Schulgebäudes:

Laudamus veteres, sed nostris utimur annis!
Wir loben die Alten, aber nutzen die Jahre.

Das war kein Spruch von Revolutionären, nicht einmal von Reformern. Trotzdem passte er uns in den Kram.
Auch eine andere Tradition aus Vorkriegszeiten hatte sich gehalten. Die 10. Klassen der Pestalozzi durfte von März bis Juni Gräfes Tanzschule in Pieschen besuchen.

Tanzschule und blonde Zöpfe passten nicht zueinander. Brigitte, die sich selber Biggi nannte, hatte einen Plan, sie klingelte an meiner Tür, saß gleich darauf in der Küche und zählte ihre Spargroschen. Ich hätte meine dazu getan, aber das Geld reichte immer noch nicht für den Friseur Kahl am Bischofsweg. Da drückte mir Biggi eine Schere in die Hand. Ich dachte verzweifelt, sie wird mich dafür hassen. Laudamus veteres, sed nostris utimur annis! ermunterte sie mich.
Ich sah, wie wichtig ihr eine radikale Veränderung war. Ich hätte gern selber so einen Schnitt gemacht zwischen mir und meiner Vergangenheit. Sie hatte von allem genug, ich nicht. Dürr, blass bis mittelbraun, kein Hintern, kaum Busen. Kleider und Röcke reichten mir bis knapp ans Knie, dann kamen Beine. Beinegebeine. Deshalb trug ich lieber Hosen. Sogar die alten von meinem Cousin. Biggi war etwas kleiner, zeigte hinten und vorn Figur. Sie war stolz auf ihre Brüste, da hingen die Zöpfe im Weg.
Ich schnitt sie eine handbreit unter den Ohrläppchen im ganzen ab, zwei wundervolle, glänzende strohgelbe Schlangen. Dann besserte ich den Schaden aus, so gut ich konnte.
Am Abend kam Biggis Mutter zu uns. Sie durfte sich nicht aufregen, sie bezog ihrer beschädigten Nerven wegen eine Invalidenrente. Sie kam umsonst. Meine Mutter hatte Spätschicht. Ich hielt die hochtönenden Vorwürfe aus. Ich wusste, ich hatte das Richtige getan. Biggi würde nie im Leben eine Lockwelle brauchen. Sie sah himmlisch aus. Wie eine Sechzehnjährige. Nur ich war um kein Haar gealtert.

Weil es neue Traditionen geben sollte, hatte die Pestalozzi-Oberschule eine erfunden. Alle 10. Klassen, mit der Zeugnisausgabe versetzt in die 11, wurden gegen Ende Juli für vierzehn Tage ins Schullager geschickt.
Das Land gehörte der neu gegründeten LPG Vorwärts. Um unser Gelände waren, wie für die stämmigen kleinen Pferde der Bauern, weiträumig Koppelzäune gezogen. Was uns völlig egal war. Wir wussten, wie wir drunter oder drüber kamen.
Unser Schullager bestand aus sieben großen und zwei kleineren Armee-Zelten, einer Scheune und zwei ausgebauten Ställen, nun als Speiseraum, als Küche und Waschräume genutzt. Wir erfuhren erst kurz vor der Heimreise, dass in den vierziger Jahren an der einen Hofseite Kriegsgefangene wohnten, Landarbeiter, die schlechter als Vieh gehalten wurden. Dieses Stück zwischen Ställen und Scheune hatten nach Befreiung der Gefangenen ein paar Russen als Zwischenstation Richtung Berlin genutzt.
Während sie schon den Sieg feierten, wurden sie samt Gulaschkanone und Pferden von einer versprengten Wehrmachtseinheit in die Luft gejagt.
Frauen aus dem Dorf erzählten uns, wie sie die Steine und Schindeln und Körperteile haben durch die Luft fliegen sehen. Das Pferdefleisch kam ihnen sehr gelegen. Wir diskutierten später, auf welche Weise die Dörfler zwischen Mensch und Tier unterscheiden konnten.

Sie hatten eine andere Sprache als wir. Vielleicht dachten sie auch anders. Sagten nichts darüber, was in den Tagen und Wochen, Monaten und Jahren davor und danach passierte.
Für uns hieß diese Geschichte unterm Strich: Sinnlos wie der ganze Nazischeiß. Wir wollten nichts damit zu tun haben.
Wir hüpften in Badeanzügen, Trikotklamotten und schlapprig kurzen Hosen herum, die Frauen aus dem Dorf trugen grobe Kleider, festes Schuhwerk und ausgeleierte Strickjacken. Sie waren für unsere Verpflegung verantwortlich.

Die sah so aus und schmeckte so, wie sie bei der Armee genannt wurde. Pro-vieh-ant. Übersetzt ins Hochdeutsche: Roggenbrot mit Spelzen, Vierfrucht-Marmelade aus Pappeimern, Erbsen-, Kraut- und Rüben-Suppen als warme Küche und abends die Wahl zwischen Sülzwurst, Leberwurst oder Blutwurst aufs Margarinebrot.
Mensch und Tier auf dem Lande mussten fürs Essen arbeiten. Auch das konnte uns egal sein. Wir waren nicht verwöhnt. Wir hätten fast alles getan, um einmal ans Meer zu kommen. Das machte das Kraut fett und Koppelzaun wie Sülzwurst erträglich.
Jeden Morgen, vor dem Frühstück ließ uns der Gruppenvorsitzender Markus auf dem Appellplatz vor der Scheune antreten. Frau Zimmerling zählte ihre Jungs und Mädchen. Wir waren voll beisammen, was denn sonst. Es gab Lagerwachen, Freiwillige aus der 12. Klasse. Sie saßen am einzigen Ausgang der Umzäunung in einem Holzverschlag, der ebenso aussah wie eins der alten Plumpsklosetts, deren Dächer nicht mehr dicht waren. Die Wache trug ein und wieder aus, wann wer das Lager verließ. Sie wechselte aller drei Stunden.
Nachdem Harald, Stellvertreter von Markus, die blaue Fahne aufgezogen hatte, verteilte Dr. Gallus, einziger Lateinlehrer an der Schule, jeden Morgen ein paar Aufgaben.

Vormittags bauten und malerten wir an den wackelnden Gebäuden herum. Im vergangenen Jahr mussten unsere Vorgänger im Innern der Scheune, oberhalb des Steinsockels grobe Sperrholzplatten vernageln. Wir strichen in unserer ersten Woche mehrmals diese Holzwände mit bissiger Beize. Der arme Konrad, wir nannten ihn so, weil er von einem Bauernhof aus Boxdorf kam und der Bruder von vier kleinen Geschwistern war, Konrad behauptete, dass die Beize zu spät aufgetragen werde und wegen der scharfen Seeluft nicht lange half. Er schien etwas davon zu verstehen. Frau Zimmerling hielt dagegen, unsere Aktion sei gesellschaftlich nützliche Arbeit. Wir machten dazu die passenden Gesichter.
Da forderte Dr. Gallus uns alle auf, in die Zukunft hinein zu denken. Unsere Nachfolger im Lager, die Klassen 11 B und C, würde das Scheuneninnere mit Ölfarbe verschönern. Und sich dankbar an unsere Mühen und Plagen erinnern. Die Schüler im nächsten Jahr wären möglicherweise schon dabei, auf dem Fußboden Fliesen zu verlegen. Wenn wir als Abiturienten in zwei Jahren zurückkehren dürften, hätten wir ein solide eingerichtetes Ferienheim. Mit Recht. Wir hätten es uns verdient. Wir alle sollten voller Leidenschaft am Fortschritt teilnehmen.
In seinen Lateinstunden benutzte er selten den Konjunktiv. Ernst oder Ironie. Wir wussten nie genau, wie er was meinte.
Der Raum für die Mahlzeiten befand sich in der ausgebauten Scheune, den Waschräumen und der Küche gegenüber gelegen. Der Gestank der Beize zwang uns, tagelang im Freien zu essen. Wir stellten Tische und Bänke auf den Rasen. Von da blickten wir in Richtung Glowe, wo die Sonne morgens sachte über dem Wasserspiegel aufstieg. So viel Himmel gab es nirgendwo in unserer Stadt. Zur anderen Seite hatten wir einen weiten Blick über die Wiesen, bis zum Dorf mit seiner alten Kirche. Die zum ehemaligen Bauernhof gehörende Kate, Altenteil oder Absteige für Saisonarbeiter, lag völlig ruiniert auf dem einzigen Hügel zwischen Strand und Dorf, auf einem Erdbuckel, ein paar Meter von unserem Gelände entfernt. Riet-Dach, Reste des Gemüsegartens, krumme Obstbäume hatten erst die Wehrmachtswölfe, dann der Seewind geschliffen. Wir Mädchen aus der Stadt beteuerten einander, wie sehr wir diesen Anblick liebten. Wir hielten uns für Romantikerinnen, wir liebten auf Abstand. Wir versuchten es wenigstens. Keine war älter als sechzehn, siebzehn.

Über das Grasland, an ein paar schmutzigen Schafen vorbei, liefen wir durch die Dünen zwei Minuten bis zum Stand. So sehr ich mich nach dem Meer gesehnt hatte, so heftig war der Schreck, als ich es zum ersten Mal auf mich zurollen sah.
Ich hatte keinen Schimmer einer Ahnung, warum ich nicht einfach ins Wasser rannte wie die anderen. Ich ließ es langsam kommen, kühlte meine Füße, ging einige Schritte weiter. Kleine Wellen spielten mit meinen Zehen, in der Ferne schimmerte die See wie ein Spiegel den wolkenlosen Sommerhimmel.
Brigitte wartete auf mich, lachte über meine Zaghaftigkeit. Die Freude der anderen war so hemmungslos, dass ich mich tiefer hinein wagte. Der Ort, die Zeit, meine Freundin ‒- alles in Ordnung. War ich einmal drin, dann ging es mir gut.
Wir putzten uns morgens nach dem ersten Bad die Zähne mit bitterem Salzwasser, weil wir wollten, dass sie in unseren gebräunten Gesichtern schneeweiß strahlten. Es schmeckte zum Kotzen, aber wir hielten durch. Jeden Morgen nach sieben. Auch, als das Gewitter vom Vortag weit hinter Hiddensee plötzlich drehte und über die See auf das Lager zu kam. Wir erreichten noch die Zelte. Dann brach eine eisige Sintflut über uns herein. Wir froren in unseren Badeanzügen, hatten auch nicht den Mut, über den schlammigen Lagerplatz zu den Duschen zu laufen.
Vera, Ira, Biggi, Gerlinde und ich, wie nasse Katzen saßen wir in unserem Zelt. Es hing schon durch vom Druck des Regens. Gerlinde drückte die Blase. Sie betete. Niemand lachte sie diesmal aus. Langsam begann das Salzwasser auf unserer Haut zu trocknen. Der ganze Körper juckte. Dann hörten wir draußen Gekreisch.

Komm ein bissel mit nach Italien, komm ein bissel mit, weil sich das lohnt. Denn am Tag, da scheint die Sonne und am Abend scheint der Mond.

Friederike, gelber Bikini, klatschnasse lange Haare, hüpfte mitten auf dem Appellplatz von Pfütze zu Pfütze. Mit ihr drei Mädchen aus ihrem Zelt und die vier Wilden. David, Gunther, Jan und Titus. Gerlinde zuckte zurück. Die Badehosen klebten vom Regen. Schlimmer, als wenn die Jungs nackt gewesen wären. Wahrscheinlich blickte sie zum ersten Mal auf männliche Schwänze. David war sich dessen bewusst. Der einzige. Wackelte mit seinem nassen Arsch, als wäre er eine Hummel, die zur Blume fliegt.
Markus stand am Eingang seines Zeltes und grinste. Gut möglich, dass er die Jungs angestiftet hatte. Er war so. Fast immer.

Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, haben Hunger, Hunger, Hunger, haben Hunger, Hunger, Hunger, haben Durst, wo bleibt das Essen, Essen, Essen, bleibt das Essen, Essen, Essen, bleibt das Essen, Essen, Essen, bleibt die Wurst.

Sie hatten endlich einen passenden Text gefunden, und wir eine Lösung, wie wir den Juckreiz vor dem Frühstück los werden. Was die anderen machten, konnten wir auch. Bewegung ist das Geheimnis allen Lebens. Waren wir einmal draußen, war der schlammige Boden kein Problem, war auch egal, ob wir nass wurden, bevor wir in die Duschen und auf die Toiletten kamen. Wir schnappten uns die Waschbeutel und alles Nötige und liefen los. Frau Zimmerling in die Arme.
Hinter ihr kam Dr. Gallus, wie die Kollegin in ein durchsichtiges Regencape gewickelt. Er legte sich für die Jungs ins Zeug. Husch, husch ins Körbchen, ihr armen schwarzen Kater.
Gallus war oft peinlich kindisch zu uns. Er wurde bald sechzig und sah in seiner knielangen schwarzen Badehose aus wie eine Karikatur von Heinrich Zille. Dennoch verstand er uns im großen und ganzen besser als unsere dreißigjährige Klassenlehrerin.

Mittags nach dem Küchendienst und dem Weißkohl-Eintropf der Dorffrauen war die Luft wieder samtig, war der Himmel wieder blank. Tiefes Azurblau wie auf den Gemälden der Italiener, zu Hause in der Sempergalerie. Die Dünen dampften noch, der Horizont verschwamm im Norden.
Friederike klapperte vor ihrem Zelt mit einer Schere. Sie hatte einen Klappstuhl hingestellt, stutzte Beate die krausen Haare. Friederike als Friseuse. Keine gute Idee. Die Mädchen aus ihrem Zelt, in Dress und kurzen Sporthosen schauten ihr zu. Regina, Beates glattes Gegenstück, was Bauch, Brüste und Haare anging, hatte Mitleid mit ihrer Freundin. Hör auf, Rike, es reicht!
Gut, hol für Bea einen Spiegel.
Als Regina zurückkehrte, waren Beates Haare total gestutzt. Wie eine Wollkappe lagen die Sauerkrautlöckchen auf dem Schädel. Die bernsteinfarbenen Augen blickten noch größer aus dem Gesicht. Wangenknochen und Doppelkinn traten deutlich hervor. Niemand konnte Beate länger anschauen, ohne zu grinsen. Trotzdem lobten alle Friederikes Geschick. Warum ehrlich sein, wenn die Wahrheit weh tat?
Chic, chic, chic, behauptete Brigitte. Es war genau das, was ich an meiner Freundin nicht ausstehen konnte. Chic, chic, plapperte Gerlinde nach. Sehr originell, meinte Ulrike diplomatisch. Sie versuchte wahrhaftig, klüger zu sei als zwei konformistische Protestantinnen.
Nicht jede machte Friederike Komplimente. Ich bin dabei, sagte Marika. Aber auf Kinnlänge.
Erst ich, verlangte Regina. Sie wollte um keinen Preis ihre mollige Freundin in der Herde der geschorenen Schafe allein lassen. Wie immer. Regina setzte sich durch. Ihr stand die Stoppelfrisur tatsächlich. Sie war Johnny Hallyday zum Verwechseln ähnlich. Nur dass sie weit auseinander stehende Augen hatte und kein Französisch verstand. Singen konnte sie auch nicht.
Die Mädchen standen im Allgemeinen auf französische Stars. Bea und Regina war das egal. Sie standen auf Mädchen.

So falsch konnte nicht sein, was Friederike da machte. Bald hatte sie jede Menge weitere Opfer. Sogar die Jungs aus der 12 A ließen sich scheren.
Dr. Gallus hielt in seinem Zelt ein Mittagsschläfchen. Frau Zimmerling war aus dem selben Grund verschwunden. Als sie zum Nachmittagskaffee riefen, ließ sich nichts mehr korrigieren. Was ab war, war ab.
Mal von den Jungen abgesehen, besaßen nun neun der fünfzehn Mädchen einen Kurzhaarschnitt. Iras gekürztes Pony konnte man nicht dazu rechnen, denn sie hatte ihren Pferdeschwanz behalten.

Auch Brigitte, meine beste Freundin, bewahrte sich und mich vor dem Schlimmsten. Wir ließen uns eine Art Jackie-Kennedy-Frisur machen. Meine gefiel mir sogar. Bei Biggi kam keine Ähnlichkeit mit der Präsidenten-Lady auf. Alles auf ihrem Kopf kringelte sich wie vorher, so, wie unter der Schädeldecke. Ich hatte mehr Glück, aber nur, weil Rike nach der Schere ihren Stielkamm benutzte und meine glatten Strähnen toupierte. Ich hatte nicht gewusst, dass sie mich mochte.
Sabine, immer für verrückte Sachen zu haben, war nirgendwo aufzutreiben. Vera, unsere Klassenbeste hielt sich völlig raus. Das konnte sie gut.
Weil die Lehrer nach dem ersten Schreck Strafe androhten, setzte sich Friederike selber hin und drückte Regina die Schere in die Hand. Wir konnten es sehen. Wir wussten, was passiert. Regina war auf Rache aus. Als sie Rikes rotbraune Mähne bis zur Schulter gestutzt hatte, brachte sie es doch nicht über sich, sie zu verstümmeln.

Friederike war der Typ, in den sich fast alle Jungs vergafften. Auch im Winter einen Rest Bräune auf der Haut, Augen, die zwischen Grün und Grau schillerten, und einen Körper wie eine Bodenturnerin, die sie auch war. Die Beste von uns. Viele Mädchen hielten Abstand. Wer mit Friederike zu tun hatte, lief Gefahr, dass aus heiterem Himmel irgendwas Tolles passierte. Genauer gesagt, keine von uns war mit ihr länger ernsthaft befreundet.
Friederike wurde mit Regina und meinem Cousin Jan aus der Grundschule in der Louisenstraße zur Pestalozzi-Oberschule delegiert. Ich kam mit Claus, dem Clown, und Brigitte von der Görlitzer. Wir alle wohnten im selben Viertel. Wir kannten einander eine Ewigkeit. Unsere beiden Schulen hatten keine Sportanlage. Wir übten auf dem Alaunplatz, der bis vor dem letzten Krieg als Exerziergelände diente, Weit- und Hochsprung, Keulen-Weitwurf, liefen auf den Sandwegen 100-Meter-Rennen.
Kamen die Leute von der Louisenschule in Zweierreihen, waren die Letzten von uns in der Zielgerade. Manchmal waren sie beim Völkerball, wenn wir uns näherten. Ihr Sportlehrer liebte Ballspiele über alles. Unserer liebte den Drill. Sportfeste organisierten unsere Schulen gemeinsam. Beim Völkerball hatten wir gegen sie selten eine Chance. Das lag an meinem Cousin Jan.
Die älteren Klassen tranken abends auf dem Alaunplatz ihre ersten Biere oder rauchten zu viert oder fünft an einer Zigarre. Das eine wurde im Konsum geklaut, das andere bei Tabak-Lösche, der in der Alaunstraße Rauchwaren, Süßigkeiten und Zeitungen verkaufte. Irgendwer von den Jungs bezahlte eine Tüte Toffees, inzwischen bediente sich ein anderer bei den ausgelegten Zigarrensorten. Zigarettenschachteln hatte Lösche hinter sich aufgestellt. Ihm kam nie der Verdacht, dass die Jungs vorn an der Theke in den offenen Holzkästchen nach gerolltem Tabak grabschen würden. Vielleicht tat er auch nur als ob. Er las den ganzen Tag lang alle Zeitungen und Zeitschriften, die er in seinen Wandregalen zum Verkauf anbot.
Nur, wenn ein Stammkunde kam, ließ er sich in ein Gespräch verwickeln.
Eine Zigarre reichte für viele. Starker Tobak, das Kraut. Ich wusste es von Jan. Nie mehr als vier Runden, jeweils ein Zug für jeden, sonst war ein „flotter Otto“ garantiert. Ging schneller in die Hose, als sie dachten. Dann rochen die Büsche auf dem Platz sehr streng. Nicht, dass ich abends auf den Alaunplatz ginge. Mädchen wären gnadenlos abgewimmelt worden.

Damals erzählte mir mein Cousin noch fast alles. Er wurde einen Monat vor mit geboren. Er bestand darauf, wenn es um die familiäre Rangordnung ging. Jan war der älteste Mann in unserer Familie. Er bezeichnete sich so, seit ich denken konnte, und niemand widersprach ihm. Schon gar nicht seine Mutter.
Meine Mutter tauschte ihre Erdgeschosswohnung in der Jordanstraße mit Jans Großmutter, als ich ein Säugling war. Sie zog mit mir aus sehr praktischen Gründen in die Vier-Zimmer-Wohnung zu Traudel, ihrer Schwägerin. Mein Cousin und ich erhielten Großmutters ehemalige Schlafstube, das ruhigste, das einzige Zimmer, das nicht zur Straße zu lag, wenn man von Küche und Bad absieht.. Dort lebte ich, bis ich sechs wurde.

Plötzlich wollte Tante Traudel mit einem Bereichsleiter der HO zusammenleben. Unglaublich, dass sie einen Mann liebte, der Theo hieß und auf dem überall blonde Haare wuchsen. Die Ehe hielt nur ein paar Jahre, aber Mutter und ich besaßen seitdem eine eigene Wohnung. Zwei Zimmer mit Wohnküche, sagte das Wohnungsamt. Mehr geht nicht. Ihr Kind ist noch nicht vierzehn. Ja, wenn Sie verheiratet wären. So was sagt nur eine begattete Beamtin zu einer Witwe.
Meine Mutter war hart im Nehmen. Gelernte Krankenschwester.
Jan schlug, seit der Bereichsleiter auftauchte, oft über die Stränge. Sein Leben war damals nicht gerade Zucker, doch er verfügte über mehr Freiheiten als ich je haben würde. Trotzdem kein Vergleich mit Davids Freiräumen.

David, Vera und Sabine stammten aus Blasewitz, ihre Schule galt als erzkonservativ. Es musste daran liegen, dass die Bewohner der Nobelviertel vom Weißen Hirsch bis zum Blauen Wunder und Richtung Pillnitz an der Elbe in den Jahren des Krieges kaum etwas von ihrem Besitz verloren hatten. Und damit auch nichts von ihrem Hochmut.

Nur David, der anderswo geboren wurde, gewöhnte sich schnell an die Cliquen aus der Neustadt und aus Trachau. Aus irgend einem Grund kamen wir Neustädter mit den Trachauern Gunther, Gerlinde, Ira, Sibylle sofort zurecht. Sie waren total in Ordnung, sie wohnten in der Richter-Siedlung, dicht an der Dürren Heide.
Ebenfalls am Waldrand, vier Kilometer weiter östlich, lag die 86. Grundschule der drei Musketiere. Georg, Erika und Marika. Einer für alle, alle für einen. Hoch lebe die internationale Solidarität.
Die drei lebten in einem Internat, das das Rote Kloster genannt wurde. Ihre Eltern gehörten zur Parteielite, arbeiteten in der Bezirksleitung, in Berlin oder waren irgendwo im Ausland. Was für den Rest der Klasse ein und dasselbe bedeutete. Die Internierten wählten die Pestalozzi-Oberschule, weil sie drei Fremdsprachen zur Auswahl hatten, vor allem Latein.
Alte Sprachen wurden nur noch an der Kreuzschule gelehrt. Zur Kreuzschule durften Chorknaben und Elitenachwuchs der Kirchgemeinden, eine vollkommen andere Gattung Auserwählter gehen. Kam also für die drei Internen mit den atheistischen Eliteeltern nicht in Frage.
Ulrike fuhr täglich mit den Musketieren aus Bühlau herüber. Sie lebte auf Sichtweite zum Roten Kloster in der Villa Emma. Ihre Mutter arbeitete als Gynäkologin in der Medizinischen Akademie, ihr Vater hatte eine eigene Praxis als Dentist. Ulrike wollte Kinderärztin werden. Schon so etwas wie hautnah ein Elternpaar zu besitzen, brachte jede Menge Vorteile. Dann noch Götter in Weiß. Und als Zugabe die Großmutter, eine Emma von Rayski. Emma dachte ich mir so, denn die Villa war mindestens so alt wie Ulrikes Großmutter und gehörte ihr. Einzige Erbin war ihre Enkelin.

Von Konrad, dem Boxdorfer, Ulrike und Klaus mal abgesehen, erbte niemand aus unserer Klasse ein eigenes Haus. Aber im Gegensatz zu Klaus machte Ulrike nicht viel Wind um sich. Trotzdem verkörperte sie für uns verarmten Hochadel und Vermögen sammelndes Großbürgertum in einem. Sie war etwas dünnhäutig, und strohblond, aber nicht strohdumm. Fast so attraktiv wie Friederike, aber eine von den Stillen. Sie fiel nur auf, wenn sie über eine Zwei in Mathe verzweifelte oder mit letzter Kraft auf dem Sportfest zum 1000 Meter Lauf antreten wollte, um ihre Leichtathletik-Zensur auf Eins zu verbessern. Irgendwie hing Ulrike in der Luft, mehr noch als Friederike. Ohne die Zuneigung der drei Musketiere wäre sie völlig draußen gewesen.

Klaus, der Erbe eines Hauses mit Werkstatt und Garage, und Heini, sein Sandkasten-Kumpel, wohnten in Pieschen. Unbedeutend, wenn sie einzeln auftraten, im Doppelpack sehr witzig. Der eine dicklich und dunkel, der andere sommersprossig, blass bis auf die Wimpern und trotz seiner starken Knochen eher mager. Beate mit den Sauerkrautlocken hatte die selbe Grundschule besucht. Sie tat immer so, als würde sie die beiden nicht kennen. Sie fand schon in der ersten Woche ihre Banknachbarin Regina spannender.
Am weitesten mussten Harald so wie die Zwillinge Markus und Titus bis zu unserer Schule fahren. Sie blieben ein knochenhartes Trio, an das keiner heran kam, wenn Markus das nicht wollte. Bis sich Titus in Vera verknallte und eigene Wege ging.
Wie diese drei fuhren wir in Grüppchen und Gruppen zur Schule. In der Straßenbahn tauschten wir die Ergebnisse der Hausaufgaben aus. Später benutzten einige von uns Fahrräder und kamen auf den letzten Drücker.

Viertel vor acht wurde das Tor geöffnet. Nach dem Unterricht trafen wir uns in einer Eisdiele, im Kino, öfter aber hinter der Eisenbahnbrücke, wo sich eine Parkanlage befand. Bis dann in der Zehnten zwölf Wochen lang auf dem Freie-Stunden-Plan Tanzschule stand. Das brachte uns total durcheinander.
Auch meine Mutter, die ich in besonderen Fällen Oberschwester nannte, war völlig von der Rolle. Sie fragte allen Ernstes, ob ich da hingehen wolle. Traudel, ihre Schwägerin und Jans Mutter hielt ihr einen Vortrag. Sie waren beide Kriegswitwen, sie hatten beide nie Geld, aber Traudel hielt es für eine Sache der Herzensbildung, ihren Jungen in die Tanzschule Gräfe zu schicken.
Tante Traudel hatte öfter Wörter wie Herzensbildung drauf. Sie besaß mehr Zeit, Romane zu lesen als meine Mutter. Meine Mutter kam, wie der arme Konrad, von einem Dorf am Stadtrand, war wenig älter als ihre Schwägerin und redete nicht gern. Außerdem war sie eine von denen, die unter gewissen Umständen schnell nachgaben. Das erinnerte mich an Biggi. Sie konnte ihre Meinung ändern, ohne sich dumm vor zu kommen.

Ich habe es lange nicht begriffen. Ein Mensch kann unerschütterliche Prinzipien haben, dennoch keine eigene Meinung. Wie froh wäre ich gewesen, wenn sich meine Mutter mal Zeit genommen hätte, mich auf die selbe Weise zu betrachten wie ein Differenzialblutbild. Früher war sie die berühmte Stationsschwester Hannelore, doch sie hatte sich als medizinisch-technische Assistentin weitergebildet. Leider verdiente sie dabei nicht mehr als zuvor. Deshalb arbeitete sie nun im Krankenhaus-Labor in drei Schichten, sparte eisern auf Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke, auf vierzehn Tage Urlaub mit Traudel, Jan und mir in der Bergsteigerhütte hinter Bad Schandau. Mehr gab es nicht. Und Schluss.

Als Traudel ihr eine Szene machte, weil mir meine Mutter die Tanzerei verbieten wollte, einigten sie sich überraschend auf eine Ausnahme.
Ich lass dich unter einer Bedingung gehen. Du lässt dich nur von Jan begleiten.
Aber erwarte nicht, dass du zu deinem Geburtstag Ansprüche stellen kannst, setzte sie eins drauf. Sie glaubte, mein Cousin wäre ungefährlicher als der Rest der Jungs. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie er mir ein Paar Nylons von seiner Mutter versprochen hatte. Er wollte meine Brüste anfassen. Wenn man die mickrigen Dinger so nennen kann. Ich war dreizehn und machte mir nichts aus fleischfarbenen Strümpfen. Das Angebot stand nicht mehr. Vor der letzten Tanzstunde hätte ich anders entschieden. Vielleicht. Oder auch nicht. Ich hatte was dagegen, mich anfassen zu lassen. Egal, wohin. Ich dachte, ich wüsste warum. Ich war von Jan mal im Prießnitzgrund in ein Brennnesselnest gejagt worden.

Wir trafen uns mit der Klasse 10 B viermal im Monat in der Leisniger Straße. Klassischer Gesellschaftstanz im Schnelldurchlauf, lateinamerikanische Tänze etwas länger. Dann das, was Gräfes als Stammbeat bezeichneten. Lets twist again und solche Sachen. Die Gräfes nannten uns mit einem Sie beim Nachnamen, das war neu. Wir waren sechzehn, siebzehn und eingeschüchtert. Wir durften erst seit kurzem ins Kino, wenn Filme wie Fanfan der Husar oder Der Glöckner von Notre Dame liefen. Mit dem atemberaubenden Gerard Philipp, mit Gina Lolobrigida, dem Busenwunder.
Ein Kinokuss sei die maximale Verführung, ein Paartanz auf Tuchfühlung der Beginn aller Sünden, sagte Biggi. Eins ihrer Lernergebnisse aus der Lutherkirche. Biblische Wörter wurden in unserer Schule nicht gebraucht. Die Lehrerschaft hielt sich ans sozialistisch-humanistische Bildungsprogramm, ans Kapital von Marx, an Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde und anderen, artverwandten Glaubensbekenntnisse. Wie gesagt, wir hatten keine Ahnung.
Unsere Jungs wagten es nicht, unter den Augen der anderen öfter als zweimal mit ein und der Selben zu tanzen. Die Leute aus der 10 B waren genau so verklemmt. Sie hielten sich an ihre eigene Klasse, wenn sie Tanzpartnerinnen suchten. Jan hielt sich natürlich nicht an die Vorgaben seiner Mutter und seiner Tante.
Wir beide haben noch mit sechs gemeinsam in der Badewanne gesessen, streunten seit Jahren wie junge Hunde durch den Prießnitzgrund, tobten an heißen Tagen im flachen Bachwasser. Wir erzählten einander, was wir niemals unseren Müttern, nicht einmal Freunden verraten wollten. Aber mit Hand zwischen den Schulterblättern, dort wo der Verschluss zum BH leicht zu öffnen war, und das im Walzertakt, kamen wir uns blöd vor. So geriet ich an David.
Markus hatte ihm Friederike ausgespannt. Markus war so. Fast immer. Ich fühlte mich wie eine Ersatzlösung, wenn David in Gräfes Übungsraum auf mich zu steuerte. Und ich zog langärmelige Kleider an, damit er nicht zufällig auf meine Haut traf. Irgendwas kitzelte trotzdem, wenn er, wie der Tanzlehrer linke Hand an meiner Hüfte, mit der Rechten meine Finger umklammerte und geduldig gegen meinen Widerstand antanzte. Außerdem störte mich, dass er sich den dunklen Anflug von einem Bart auf Kinn und Oberlippe nicht rasierte.

Die letzte Stunde vor dem Mittelball. Einmal durch mit Schritt und Schritt und Wechselschritt. Dann verteilten die Gräfes Tanzkarten an die Mädchen. David kam so schnell auf mich zu, dass Madame Gräfe aus vollem Hals lachte. Sie war nicht die Einzige, aber bei ihr sah das etwas seltsam aus. Sie hatte einen herzförmig geschminkten Mund, den sie nun aufriss wie ein Scheunentor. Sie stand kerzengerade im malvenfarbenen Cocktailkleid neben ihrem Mann. Ein Kreuz wie aus Stahlfedern, aber gute Figur und schöne Beine. Ihr Gesicht hätte ohne Schminke keine Spur von Reiz, doch wenn sie lachte, vergaßen wir, dass sie mindestens fünfundzwanzig Jahre älter war. Wir lachten mit.
Unser Tanzlehrer Gräfe war auch kein Traummann, obgleich er Anzüge trug, die Peter Alexander gut gestanden hätten. Wenn er lächelte, entblößte er ein Pferdegebiss. Grausam, wie wir waren, hieß er deshalb bei uns Graf Dracula. Was sonst. Er schien das zu wissen, er überließ das Lachen meist seiner Frau.
Er beorderte David höflich zurück. Der arme Kerl musste vor mindestens vierzig Gleichaltrigen den Tanzlehrer nachahmen, in die Reihe der Jungs treten, mit den Augen die Reihe der Mädchen absuchen. Kurz nachdenken, tief einatmen.
Auf ein Klingeln des Glöckchens, das Frau Gräfe in ihrer manikürten Hand hielt, sollte er sich bedächtig Schritt für Schritt dem ausgewählten Mädchen nähern. Mädchen wurden vom Grafen Dame genannt. Dracula der Hochstapler. Leichte Verbeugung mit Kopf und Oberkörper. Sie, meine Herren, bitten um den ersten Tanz.

Wir in der weiblichen Frontlinie hielten betreten Tanzkarte und Stifte bereit. Der Erste, der kam, war selbstverständlich der erste und letzte eingetragene Tänzer. Alle Tanznummern dazwischen blieben unserer Entscheidung überlassen.
Meine Damen, Sie dürfen Nein sagen, meinte die Gräfin mit einem Zucken ihrer Mundwinkel. Das Siezen war die pure Heuchelei. Wie alle Erwachsenen, nahm uns auch Draculas Gattin nicht ernst.
David war speziell. David hatte den Vogel abgeschossen, aber er ließ sich nicht beirren. In der Turnhalle stand er nach Konrad und Jan als Dritter in der Riege, hatte stämmige Beine und einen großen Kopf. Er saß mit Ira und Gunther in der Bank hinter mir. Seine Augen besaßen eine warme Farbe zwischen blau und Vergissmeinnicht, ansonsten konnte ich nicht viel über ihn sagen. Ich war weniger froh über seine Wahl als über die Tatsache, dass ich nun nicht mit bekloppten Typen wie Harald Franke oder Bodo Claus, dem Clown, herum springen musste.
Am Ende der Brautschau zwang Graf Dracula Gerlinde und Heini, die Letzten ohne Partner, zu ihrem Glück. Was vor allem die Leute aus der B erheiterte. Da ging Gunther auf Gerlinde zu und stellte sich für Boogie und Mambo zur Verfügung. Das ließen David und Jan nicht auf sich sitzen. Sie taten, als wäre Gerlinde die begehrteste Frau der Stadt. Die Jungs von der B hatten keine Ahnung, was in der A klassenmäßig so lief. Gerlinde konnte egal sein, warum unsere Jungs es taten.
Klaus, der Klassenclown Nummer zwei hatte es auf meine Freundin Brigitte abgesehen. Ich dachte nur: Ich hätte es schlechter treffen können, als mit David zum Mittelball zu gehen.

Im Übungssaal in der Leisniger Straße standen kleine Tische bereit. Immer noch saßen Jungen und Mädchen getrennt. Wir sollten unsere besten Sommerkleider, beziehungsweise dunkle Hosen und weiße Hemden anziehen.
Wir tranken aus Weingläsern Waldmeisterlimonade. Fünfzehn Minuten Spielregeln lernen. Fünf Standardtänze, fünf Lateinamerikaner, einmal Booggie-Woogie und ein Twist. Eine Art Generalprobe. Das wars dann?
Vor dem Abschlussball, als wir schon behaupteten, wir wüssten, was so läuft, trainierten die Gräfes mit uns das ganze Programm, alle erlernten Tänze mehrmals durch. Dann wieder der aufregende Moment. Mädchen links in Reihe, die Jungen rechts und das Glöckchen-Bing der Gräfin.
Dumm, dass sich David diesmal Zeit ließ und kehrt machte, als mich Georg fragte. Ich wusste genau, Georg hätte gerne mit Marika neben mir tanzen wollen, aber Markus wollte Sabine ärgern und schnappte ihm Marika weg. Jungs eben, keine Männer. Wieder war ich die Ersatzlösung.
Ich sah Davids Zögern, dann seine Kehrtwende und brachte kein Wort heraus. Ich hatte mich schon an ihn gewöhnt. Georg bekam einen roten Kopf. Wie oft, wenn er einen Fehler machte. Also griff ich nach der Ballkarte und sagte: Trag dich ein, dreimal mit dir geht klar. David stand vor Friederike und seltsam, sie war zufällig frei. Sie freute sich wie ein Schneemann. Sie hatte mit Schlimmerem gerechnet. Ich war sauer wie eine Gurke und wusste nicht warum.

Das Elbe-Hotel in Loschwitz hat Klasse, es kommt gleich nach dem Astoria, behauptete Jan. Wusstest du, dass unsere Mütter dort ihre Doppelhochzeit gefeiert haben? Echte Musiker auf der Bühne, Parkettboden und eine Bar im Keller.
Jan liebte seine Cordhose über alles, doch von einem Tag zum anderen fühlte er sich im schwarzen Anzug männlicher als beim Kamin-Klettern in den Schrammsteinen. Seine Mutter musste die Hochzeitshose ihres toten Mannes ein wenig kürzen. Das Jackett passte schon.
Für mich opferte Traudel zwei Wochenenden an der Nähmaschine. Sie liebte mich wie eine Tochter und glaubte immer noch, dass ich mit meinem Cousin angeben wolle. Sie protestierte erfolgreich, als ich lange Ärmel verlangte.

Brigitte, meine beste Freundin, ließ sich gerne anfassen. Tanzen war deshalb ein guter Vorwand für sie. Ihre Großmutter schickte aus Westberlin ein Organdi-Kleid, schlüpferrosa. Blasses Karmesinrot wie der Gürtel und die gleichfarbige Stoffkamelie am Busen. Das Unterkleid dunkler. Schlüpferrosa war nur so ein Gedanke von mir. Ich hatte gelernt, nicht alles zu sagen, was ich dachte. Biggi regte sich nur auf, weil es Puffärmel hatte. Wir schnitten die Dinger einfach raus.
Dann probierten wir Frisuren, die einen Abend lang halten sollten. So was konnte man mit Biggi immer gut machen. Und spätestens jetzt hätten alle Zöpfe fallen müssen. Biggi jammerte ein wenig, nicht wegen ihrer Haare, sondern weil sie mit Klaus gehen sollte.
Ein Adonis ist er nicht, sagte ich, aber witzig. Er blamiert dich schon nicht. Er tanzt doch nur die Polonaise, Foxtrott und den letzten Walzer mit dir. Was kann er da falsch machen? Foxtrott war nach der Polonaise der erste Tanz, der auf der Ballkarte stand. Biggi fand das Hüpfen chic. Ich weiß bis heute nicht, warum.
Die anderen Mädchen besorgten sich Kleider mit Spitzen und Schleifen wie zu Adolfs Zeiten, die Jungen passende Garderobe dazu. Das teuerste Ballkleid trug die blonde Ulrike. Maigrünes Etwas, feinster Batist, schulterfrei, knielang, mit einem Jäckchen aus Atlasseide komplettiert. Sie sah aus wie ein Porzellan-Püppchen auf der Hochzeitstorte. Der cremefarbene Petticoat schaute exakte drei Zentimeter vor. Die gesamte Ausstattung hatte eine Schneiderin vom Theater genäht. Der arme Konrad neben ihr war sichtbar eingeschüchtert. Immerhin hatte er den Mut gehabt, von Boxdorf nach Bühlau zu fahren.

Friederike besaß keinen Petticoat, aber wenn sie sich in ihrem kurzen Glockenrock drehte, stahl sie Ulrike die Schau. Das weit ausgeschnittene Trikot mit Falbeln statt Ärmeln war von der selben Farbe wie die Blumen auf dem Rock. Wenn ich ehrlich sein sollte, hatte sie als Einzige begriffen, was die Sechziger für uns bedeuteten.
Ich sah Friederike kommen und war Traudel wieder dankbar für ihre Idee mit dem Selbstgeschneiderten. Neben ihr, Vera, Marika und Erika tanzte ich nicht aus der Reihe. Zum Abschlussball war Friederike völlig aufgedreht. Spätestens nach der Pause hielt sie sich nicht mehr an ihre Ballkarte. Unsere Jungs hatten schon lange die Übersicht verloren. Wir alle wanderten einfach von Tisch zu Tisch und gingen aufs Parkett, wann und mit wem wir wollten.
Alkohol wurde nur an den Elterntischen ausgeschenkt. Die Kellerbar hatte geschlossen. Da waren sich David und Markus zum ersten Mal einig. Sie organisierten billigen Weißwein aus Ungarn. Unsere Gläser wurden von drei Kellnerinnen aus großen Limonadeflaschen nachgegossen. In der Garderobe füllte eine von den jungen Frauen die Flaschen mit elf Prozentigem nach. Markus hatte sie mit Davids Geld oder was weiß ich noch bestochen.

Im Rückblick bin ich mir sicher, dass wir alle nicht wussten, was wir taten. Denn nur am Anfang lief der Abend nach Plan. Die Jungs sollten ihre Mädchen zu Hause abholen und eine Rose mitbringen. Olle Klamotte, sagte David. Nicht mein Stil. Für diesen Moment dachte ich, dass er und Friederike wie zwei alte Latschen zusammen passen. Mit Georg würde ich mich niemals in die Nesseln setzen. Da war ich mir sicher.
Aber David war speziell, wie gesagt. Ich wusste nichts davon, bis er an diesem Abend vor meiner Tür stand. Er hatte mit Georg einfach getauscht. Er war so weit gegangen, ein dunkles Sakko zu seiner neuen Jeans zu tragen, aber auf eine Krawatte verzichtete er. David grinste zufrieden über mein überraschtes Gesicht, drückte mir eine lachsfarbene Nelke in die Hand. Behauptete, er hätte seinen Chauffeur dabei.

Ich hätte gewarnt sein sollen. David hatte sich rasiert. Auch wenn es nicht viel zu rasieren gab. Wie gesagt, er hielt sich ungern an Regeln. Sein Vater saß unten im Auto, im schwarzen Anzug mit Fliege, als wolle er auf eine Beerdigung. War mindestens fünfundvierzig und ähnelte David bis auf die lange gerade Nase überhaupt nicht. Er hatte einen schmalen Mund, tiefe Falten im mageren Gesicht. Er fuhr seinen P 70 rasant die Bautzener Straße hoch und die Grundstraße wieder abwärts direkt auf die Brücke zu, um rechtzeitig einen Parkplatz vor dem Elbe-Hotel zu finden.
Die meisten Paare kamen mit der Straßenbahn. Auch ihre Mütter und, falls vorhanden, ihre Väter. Ulrike, die Porzellanpuppe, wollte auf Frau von Rayski nicht verzichten. Sie stieg eben mit der ganzen Sippe und ihrem Tänzer aus dem BMW der Großmutter, als Davids Vater nervös einparkte. Ich war unbeschreiblich erleichtert, dass die Fahrt zu Ende ging. Unterwegs hatte der Mann im Beerdigungsanzug nach meinen Zensuren in Russisch, Mathe und Musik gefragt und sich über Davids mangelhaften Leistungswillen beschwert. Er gemahnte uns an unsere ehemaligen Schulen. In diesem Monat fanden die letzten Prüfungen zur Mittleren Reife statt. Was uns nichts anging. Aber wenn wir das Abitur an der Pestalozzi-Oberschule vermasselten, müssten wir noch einmal in die alte Schule und zurück auf Zehn. Er konnte es nicht lassen, uns an einem Tag wie diesen daran zu erinnern.

David drehte sich zu mir und legte den Finger auf seinen großen Mund. Er hielt sich so, dass sein Vater ihn im Rückspiegel nicht sehen konnte. Der Mann hat echte Sorgen mit ihm, dachte ich. Und umgekehrt. Aber ich dachte nicht daran, alles zu sagen, was ich dachte.
An diesem Abend war uns egal, was später kommt. Kein Gedanke an gewisse Reifegrade. Wir wollten Spaß haben. Wir wurden so was von erwachsen. Wir hatten keine Ahnung.

Im Elbe-Hotel, auf der Bühne spielte sich die Swing-Combo Bela Liebling ein. Waschechte Zigeunerbande, behauptete David. Er sagte es, als hätte er nichts dagegen. Als Zigeuner waren die fünf Musiker ziemlich brav gekleidet und viel zu diszipliniert. Bis Dracula die sechs lateinamerikanischen Tänze ankündigte. Gut so. Dann kam die Einlage mit Chubby Checkers Song. Jetzt war der Teufel los. Auf der Bühne und auf dem Parkett.
Endlich lassen sie die Hosen runter, meinte Gunther, neben Ira und Titus unser bester Aufsatzschreiber und wie die beiden ein Booggie-Fan. Wir fanden Gunthers flotte Redewendung toll genug, sie mit Stiller Post über die ganze Tanzfläche zu verbreiten. Wir hatten schon zu viel von der elf prozentigen Limonade getrunken.
Ich staunte über mich selber, ich konnte mich ohne Schweißausbrüche auf die Musik einlassen. Twist als maximale Ekstase bei minimalem Hautkontakt. Und anders als in der Leisniger Straße war die Anzahl der Beat-Tänze hier dreimal so hoch.
Die Gräfin und der Grafula benahmen sich netter als gedacht. Gegen 21 Uhr schickten sie die misstrauischen Erwachsenen mit einem Lächeln nach Hause. Der Untote entblößte sein Pferdegebiss.
Haben Sie Vertrauen in Ihren Sohn, in Ihre Tochter. Und eine Bitte an Sie, junge Herrschaften. Vergessen Sie Ihre anständige Kinderstube nicht. Alles Gute auf dem weiteren Lebensweg. Wir begleiten Sie gern dabei. Unsere Fortgeschrittenenkurse finden am Montag, Mittwoch, Freitag jeweils ab 18 Uhr statt. Anmeldungen bitte an einem Dienstag zwischen 15 und 18 Uhr.
Dann setzte Lieblings Band ein und spielte ihre letzten vier Titel. Belas Jungs hatten inzwischen mehr als elf Prozent im Blut.

Niemand erwartete uns daheim. Davids Vater machte noch auf dem Parkplatz kehrt. Ich wusste inzwischen, er war Konzertgeiger. David erklärte mir, die Staatskapelle gäbe am selben Abend ihr 3. Außerordentliches Konzert mit einem weltberühmten Pianisten. Ich wusste damals nicht, was es für David bedeutete, diesen Kerl zu verpassen. Davids Mutter war gar nicht erst aufgetaucht, sie tourte mit ihrer Flamenco-Gitarre durch Westdeutschland.
Meine Hannelore fuhr kurz vor neun zur Nachtschicht ins Krankenhaus. Der Zuschlag sollte den Urlaub sichern. Da konnte sie nicht Nein sagen. Und Tante Traudel ging vorzeitig. Sie setzte voraus, dass mich Jan nach Hause brachte. Aus taktischen Motiven hatten wir ihnen vorgeführt, wie gut wir miteinander Polka, Walzer und Hully-Gully tanzen konnten.
Jan zog am Ende mit Friederike ab, keiner hätte das gedacht. Am wenigsten Biggi. Nach dem Tango mit meinem Cousin glaubte sie, sie wäre seine Nummer Eins geworden. Sie war am Boden zerstört, krallte sich förmlich an Klaus. Ich hatte keinen Nerv für Brigittes Katzenjammer. Gerlinde hörte ihr zu, ließ aber Heini nicht aus den Augen.
Als David kurz vor zehn mit meinem Mantel kam, schmalzte er: Du hast das schönste Kleid von allen. Aber jetzt zieh dich warm an. Nachtluft ist gefährlich. Er roch nach Pfefferminzschnaps. Ich fand das für einen Augenblick lang nicht komisch. Ich musste was Blödes sagen, um ihn auf Abstand zu halten.
Das Kleid hat meine Tante genäht, der Stoff war früher meine Kinderzimmer-Gardine.
Er half mir brav in den Mantel. Draußen rückte er auf Tuchfühlung. Dann möchte ich mal deine neue Gardine sehen.

Die Luft war milde, das Laternenlicht reichten keine vier Meter weit. Und der Mond war nur eine Sichel. Die anderen standen in Grüppchen vor dem Elbe-Hotel. Vom Fluss her drang der sehnsüchtige Ton eines Schiffssignals. Ein Schlepper aus der Tschechei kündigte an, dass er bereit war, unter dem Blauen Wunder hindurch zu ziehen.
Mannomann, der fährt direkt nach Hamburg! rief Klaus. He, Leute, nehmt mich mit!
Wir wollten plötzlich alle zum Ufer. Aber David zog mich Richtung Körnerplatz. Was willst du in Hamburg? Ich bin hier. Lass uns mit Georg und seinen Mädchen die Grundstraße hoch laufen. Der Bus kommt nicht vor einer Stunde.
David war hinter der Brücke drei Straßen weiter zu Hause. Ich hätte einfach über den Schillerplatz Richtung Neustadt fahren können, ich wusste nicht, warum ich mich auf seinen Vorschlag und den Umweg einließ. Kein Widerspruch. Nicht ein Wort.
Ulrike lief mit den Internatsschülern ein Stück vor uns. Sie hatte es geschafft, ihre adlige Sippe loszuwerden. Auch ihren Dauertänzer Konrad. Georg hatte ihr dabei geholfen. Wer von beiden Schluss gemacht hatte, blieb unklar. Mir schien es, als wären David und ich das einzige Pärchen auf dem Heimweg.
Ich wollte auf keinen Fall zum Klatschobjekt der Schule werden, denn alle anderen trieben in Rudeln nach Hause. Ein paar Schritte weg vom Körnerplatz sah ich hinter den bizarren Brückenstreben des Blauen Wunders Markus und Sabine dicht aneinander gedrückt.
Also doch. Also dann. Wäre auch seltsam gewesen. Mir fiel ein, dass ich Davids Nelke auf dem Tisch vergessen hatte. Was mir sehr leid tat.
Wir schlichen die letzten Meter, bevor wir die Haltestelle am Nachtflügelweg erreichten. Wir hatten uns überschätzt. Georg, Marika und Erika kannten in dieser Gegend die Wege und Nebenwege, waren das Laufen gewohnt. Wir auch, aber nicht bergan.
Ulrike jammerte, dann hängte sie sich bei Georg ein. Gutmütig wie ein Muli zog er sie bis zur Haltestelle mit. Er wartete mit uns und den Mädchen auf die Linie elf. Ihr Internat befand sich in einer historischen Villa am Weißen Adler. Ulrike Beinahe-von-Rayski wohnte schräg gegenüber.
Als die vier ausgestiegen waren, kam es mir vor, als wäre die Bahn übervoll, als wären David und ich schutzlos vor den hochprozentigen Leuten aus dem Volkshaus Bühlau. Am Parkhotel stiegen weitere Nachtgestalten zu. Genauer gesagt alle diejenigen, die nicht genug Kleingeld für die Kakadu-Bar besaßen und nun in den Lindengarten fuhren, der ebenfalls bis nach Mitternacht die halbe Stadt amüsierte.

David und ich hielten schweigend durch. Als wir an der Radeberger Straße ausstiegen, waren wir zum ersten Mal an diesem Abend allein. Wir begannen uns über Pärchen zu unterhalten, die wir in der Straßenbahn gesehen hatten, über die sich auflösenden Krawatten der Männer, die wirren Frisuren der Frauen. Über ihre muffligen Mienen. Über das Gekicher und Gelaber. Über Frauen, die Alkohol nicht vertragen. Wir konnten beide gut hecheln.
Auf der Prießnitzstraße mickerten die gusseisernen Gaslaternen. Sie beleuchteten kaum den Granit auf dem Weg.
David blieb stehen. Mir fuhr ein schwammiges Gefühl durch die Glieder.
Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass wir ununterbrochen altern?
Darauf war ich nicht vorbereitet.
Glaub mir, wir altern mit dem Augenblick unserer Geburt, wir verlieren mehr und mehr an Hirnzellen. Sie verbinden sich. Was nicht gebraucht wird, stirbt ab. Die Natur ist hart mit uns, sag ich dir. Auch unsere Organe regenerieren sich, seit wir richtig ausgewachsen sind, nicht mehr vollständig. Sagen wir mal, ab vierzehn, fünfzehn, aber spätestens mit sechzehn Jahren bauen wir wirklich ab. Wir verbrauchen mehr, als wir haben. Gesetz der Entropie. Das hat die Wissenschaft jetzt festgestellt. Ist erschreckend. Oder nicht?

Meinst du das im Ernst? Ich schluckte an meinem Speichel. Ich hatte einen unangenehmen Geschmack vom gepanschten Wein und der feuchten Nachtluft der Neustadt.
Finster wie in einem Bärenarsch, euer Viertel, wechselte David das Thema. Was nicht stimmte. An der Ecke Louisenstraße blendete uns eine lange Reihe von intakten Laternen. Und wo genau wohnst du, Krissi?
Es war das erste Mal, das er mich so nannte. Das erste Mal, dass mich irgendwer so nannte. Sogar Biggi machte aus Kristina seit langem eine Tina. Am Nordbad, antwortete ich. Darauf war ich vorbereitet.

Mir fiel jeder Schritt schwerer. Schlau wie Mama war, verbot sie mir, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen. Sie hatte von einer Kollegin ein Paar Ballerinas abgekauft. Türkisblau mit Punkten, wie mein Kleid.
Aber auch in den flachen, dünn besohlten Schuhen brannten meine langen Füße. Vom Tanzen, vom Serpentinenweg, die Grundstraße und die Neugersdorfer bergauf. Ich nahm meine Ballis in die Hand, die Strümpfe hatten so oder so schon Laufmaschen.
David blieb stehen und wiederholte unsicher: Nordbad? Dann sind wir gleich bei dir.
Du bist heute so scharfsinnig wie mein Teddybär, entgegnete ich.
Hast du ein Problem mit mir? Wolltest du lieber mit Jan nach Hause wackeln?
Wie kommst du drauf?
Weil ihr mit Brigitte in einer Bank sitzt und ständig zusammen klebt.
Jan ist mein Cousin, du Pinkel.
Statt beleidigt zu sein, lachte David, dass es in der Straße schallte. Pinkel. Wer sagt denn heute noch so was?
Ein Auto blendete uns, das einzige weit und breit. Es bog ab in die Pulsnitzer und verschwand.
Jan sagte mal, er kennt dich schon ewig und wohnt auf der selben Straße wie du. Ich war vorige Woche in seiner Wohnung. Wie hält er das aus, direkt an der Feuerwache? Aller paar Stunden Sirenengeheul. Er ist ein klasse Typ, aber auch unheimlich. Er malt verrückte Bilder und steigt in Bergen herum.
Das liegt in der Familie, sein Vater war Bergsteiger, meiner auch. Seiner zuletzt bei den Gebirgsjägern. Meiner ist vermisst, seiner ist gefallen. Jan kraxelt, seit er laufen kann, in der Sächsischen Schweiz. Meine Tante hat eine Hütte im Kirnitzschtal, zusammen mit Freunden. Da sind wir in den Schulferien.

Ich hatte David leicht verschreckt. Du machst das auch? Am Seil und so was ?
Nee, bin nur selten so weit gekommen. Meine Mutter zwingt mich zum Wandern. Berge hoch, Berge runter. Sie hat zu viel Schiss, mich an die Felsen zu lassen. Ihr Bruder, also Jans Vater hatte mal einen Unfall. Sie, mein Vater, Tante Traudel und ihr Mann waren im Böhmischen unterwegs. Ihm und den anderen hat es hinterher nichts ausgemacht, weiter zu klettern, aber meine Mutter wollte seitdem nicht mehr auf den Berg. Meine Tante schon. Ich bin Mutters Einzige. Mich würde sie in Verbandswatte packen und
im Glaskästchen in den Instrumentenschrank stecken, wenn sie könnte.
Kann sie aber nicht. Plötzlich klang seine Stimme anders. David nahm mir die Schuhe ab, als wollte er mich von einer Last befreien.
Ich kenne euer Viertel ganz gut. Manchmal hole ich Bestellungen für meine Eltern aus Nestlers Antiquariat, besorge was im Musikhaus Meinel. Ich möchte dich öfter besuchen kommen.
Wegen meiner neuen Gardine? Ich konnte es nicht lassen.
Wir waren schon hinter der Kamenzer, als die Lutherkirche dröhnend zu läuten begann. Zwölf mal Dong. Hundert Meter weiter, an der Kreuzung Rothenburger ratterte die Bahn der Linie 13 vorbei, kreischte um die Ecke, bevor wir mein Haus erreichten. David stöhnte. Und ich dachte, die Sirene der Feuerwache sei ein Problem für euch.
Also, danke nochmal. Und so. Ich wohne im Dachgeschoss, sagte ich kopflos, als könnte ich verhindern, dass er tatsächlich mein so genanntes Kinderzimmer sehen wollte. Aber er ließ die Schuhe fallen und zog mich in den Torbogen nebenan, in den Durchgang zum Nordbad.

Ich spürte Ziegel in meinem Rücken und seine Hände, die meinen Kopf fassten. Mir schoss eine Hitzewelle vom Bauch bis in den Kopf. Ein Brennnesselnest war nichts dagegen. Seine Lippen schmeckten nach Pfefferminze und Alkohol. Es war so was von egal. Er sollte nur nicht gleich wieder aufhören. Er presste sich an mich, als wollte er durch die Wand gehen. Mit mir. Erst auf meine heftigen Bewegungen hin ließ er los.
Entschuldige.
Nein, nein, ich bekomme nur keine Luft mehr. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich mag dich, David. Wirklich.
So, du magst mich. Er klang nicht überzeugt. Wolltest du mir das irgendwann mal sagen? Oder beweisen?
Ja, ich mag dich, auch wenn wir jeden Tag altern und unsere Organe schrumpfen und all das Zeug.
Das heißt, ich muss jetzt nach Hause fahren?
Im Durchgang war es dunkel. Aber ich sah, dass er seinen großen Mund in die Breite zog.
Was fährt denn noch bis Blasewitz? fragte ich. Mir fiel ein, dass er von der Nachtschicht meiner Mutter wusste. Nach den Hitzewellen fror ich plötzlich.
Er musste das spüren. Dann muss ich laufen. Ist heute Nacht schön trocken und nicht kalt.
Und was sagt dein Vater, wenn du so spät kommst?
Was schon? Spät geworden. Vielleicht noch: Wie heißt sie eigentlich? Er kann sich Namen, Gesichter und Zahlen nie merken. Er merkt sich Noten, das reicht ihm. Kann auch sein, er geht mit Kollegen was trinken. Macht er oft, wenn meine Mutter auf Tournee ist.
Ich hab deine Nelke vergessen, gestand ich traurig. Da machte er das noch mal. Seine Hände hielten meinen Kopf, seine Lippen saugten sich fest und er versuchte herauszufinden, ob er noch mehr anfassen dürfte.

Da hörten wir zwei Stimmen näher kommen. Im Streit. Sie blieben keine drei Schritte entfernt stehen. Es war ein älteres Paar mit Bierfahne. Sie betrachteten uns wie Filzläuse. Ehe David mich zurückhalten konnte, verschwand ich in unserem Haus.
Mir ging lange durch den Kopf, was David in dieser Nacht sagte. Seine Eltern machten ihr Ding und er seins. Hieß das, er hat schon jede Menge Mädchen gehabt? Nur geküsst? Die Ballerinas hatte ich völlig vergessen. Was ich mehr bedauerte als die rosa Nelke. Am nächsten Morgen, als ich den Müll runter bringen sollte, waren sie verschwunden. Nichts als Verluste. Aber David war ein Hauptgewinn.