Der Schlüssel von Rieunette

Ein Experiment in 10 Versuchen

Der Schlüssel von Rieunette gehört zu einer Sammlung von zehn kürzeren und längeren Erzählungen, die die jeweiligen historischen Schwellen zu einem neuen Verständnis von Beziehungen beschreiben. Es sind Liebesgeschichten der unterschiedlichsten Art, ein Versuch, den Ursprung unserer Sehnsucht zu beschreiben.

Der Schlüssel von Rieunette

Leseprobe

Begegnung

Giovanni hörte die Flüche von weitem. Wieder ein Dialekt, den er nur halb und halb verstand. Aus dem Süden stammte er nicht. Er versuchte, sein Pferd zur Umkehr zu bewegen, tastete nach seiner Bauchbinde unter dem Leinenhemd. Auf keinen Fall sollten Strauchdiebe seine letzten Fiorenti ergaunern. Da trabte der dumme Gaul schon um die nächste Biegung.
Das waren keine Straßenräuber. Am Wegrand hing eine schwarzgoldene Kutsche schief, das Wappen war ihm nicht bekannt. Neben dem Gefährt zwei Damen in Reisemänteln und einige Männer in Livreen. Sie koppelten die Pferde aus, versuchten den Wagen anzuheben, das Rad zu richten. Die jüngere der Damen gab einen Befehl. Den konnte Giovanni verstehen. Sie forderte eins der Pferde an, auch wenn es dazu keinen Sattel gab. Sie wollte endlich zur Jungfrau Maria reiten.
Wo auch immer die Heilige wohnte, die junge Frau setzte sich durch. Sie und ihre Begleiterin bekamen je eins von den schwarzen Trabern, ein älterer Herr in der samtigen Kleidung eines Adligen, Pelz am Ärmelsaum, Fasanenfedern am Barett, blickte sich ratlos um, fragte Giovanni, ob er die Abtei de Rieunette kenne. Neugierig, wie er war, behauptete Giovanni, er wolle ebenfalls zur Abtei.
Gut, dass er davon hörte. Er hatte schon überlegt, wie und wo er ein Abendbrot und einen Strohsack findet. Eine Abtei würde einem Pilger fraglos Obdach gewähren. Der Mann im Barett fragte ihn höflich nach seinem Namen. Giovanni Bordino di Fiorenze, gab er zurück. Er hatte gelernt, dass, je länger der Name, die Achtung des Fragenden stieg.

Auch diesmal funktionierte seine Selbstsicherheit. Der Herr legte seine Hand auf die Brust und nannte seinen Namen. Jean de Rieux. Falls Sie die Güte haben, unsere Herzogin Margarite des Germes zu begleiten. Ich werde mich darum kümmern, dass ihre Kutsche wieder instand gesetzt wird.
Margarite de Germes trug goldfarbene Stickereien auf den Revers ihres dunklen Mantels, unter der Kapuze einen rotbraunen, geflochtenen Haarkranz. Die Jüngere also. Ihre Begleiterin, um viele Jahre älter, war bescheidener gekleidet.
Drei Männer blieben am Wagen zurück, nur einer mit Livree schnallte sich einen Kasten auf den Rücken und folgte den Damen. Giovanni ritt voran, in der Hoffnung, dass der Weg ihn sicher führte.
Schon im Wald ging es mal bergauf, mal bergab. Als er sich lichtete, erstreckte sich ein langes Tal zwischen fruchtbaren Hügeln. Die Abtei schmiegte sich an einen von ihnen. Ein romanischer Bau, erhaben in seiner Bescheidenheit.
In Perpignan hatte man von den Zisterziensern gesprochen, exotischen Mönchen, aus einem Bettelorden gewachsen, in Demut vor dem Herrn, im Dienste für die Ärmsten der Armen ebenso wie für die Seelen der Reichen. Beten und arbeiten, Körper und Seelen retten, ohne Ansehen des Namens oder Standes. Barmherzigkeit war nur ein Teil ihrer Dienste. Der andere war sehr praktischer Natur. Ihre Wirtschaften blühten trotz der Kriegswirren.

Je näher die kleine Gesellschaft der zwei hochgeborenen Damen und ihrer Begleiter kam, um so offensichtlicher wurde der natürliche Reichtum der Abtei. Alles im Werden. Weinhänge und Kräutergärten in der Umgebung, im Mai besonders schön zu sehen. Das Land versprach Fruchtbarkeit und Fülle.
Sehr gern hätte Giovanni nun eine Rast eingelegt, um das Kloster und seine Hügel in einer Skizze einzufangen. Doch die Damen stöhnten auf den ungesattelten Pferden und er selbst wollte sich nicht sofort als Maler zu erkennen geben.
Er war zuerst vom Hengst gestiegen. Als er die Glocke an der Pforte schwengelte, trat die junge Dame neben ihn. Eine Ordensschwester öffnete das Fenster in der Tür. Sie nannte ihren Namen, den Giovanni sofort wieder vergaß. Ehe er eine Erklärung geben konnte, kam ihm die junge Dame zuvor. Mein Name ist Margarite des Germes, wir wurden angekündigt.
Sie duftete nach Myrthe, den Sträuchern in den Gärten von Florenz. Giovanni traten die Tränen in die Augen. Ihr Name erinnerte ihn an Santa Margarita, die Perle unter den Kirchen, nahe an Giovannis Vaterhaus, die der göttliche Dante als einen Ort der Liebe verewigt hatte.
Auch ihr Kopf erinnerte ihn an die jungen Florentinerinnen. Ein blasses, volles Rund, Mittelscheitel, geflochtener Haarkranz. Die Unterlippe so voll, dass die Oberlippe nicht mithalten konnte. Nein, sie schmollte nur. Das Ebenmaß ihrer Züge war vollkommen.
Als Maler wusste er, was das bedeutete. Eine einzige Zeichnung und er könnte ein großes Gemälde schaffen. Glanz der Gewänder, ein prachtvoller Schmuck, alles nichts gegen dieses schöne Gesicht. Er wusste schon, wie er die Farbe ihrer Haut mischen würde. Und der Hals. Fast verdeckt durch Kapuze und Kragen des Kleides. Dann dieses Grübchen am unteren Ende, die sanfte Kuhle an der Kehle. Er musste sie malen.
Die ältere Dame neben ihr war das blanke Gegenstück. Nase und Kinn eines energischen Mannes, der Mund schmal und faltig wie die Hand, die Margerite die Tür öffneten.
Die Nonne ließ sie ein. Giovanni trat als Letzter durch die Pforte. Niemand verlangte von ihm eine Erklärung.
Die Nonne hatten den Männer zwei Zellen zugewiesen, die Pilgern zukamen. Die eine Dame wurde nahe der Küche einquartiert. Margarite des Germes durfte sich in dem Gemach einrichten, das der Vater Abt bei seinen Besuchen nutzte. So klein die Abtei war, sie besaß immerhin eine stattliche Kirche, in der die Stundengebete zelebriert wurden. Eine kleine Glocke läutete eben zum Komplet. Die Schwestern eilten zum Nachtgebet. Dorfbewohner hatten den Zugang vor den Klostermauern. Giovanni entschloss sich, den imposanten Bau von innen zu besichtigen. Auch die Gesänge taten ihm gut. Wie vermisste er die hohen Feiertage in Florenz!
Die Nonnen saßen in ihrer strengen Tracht längsseitig im eigenen Gestühl, der Kirchenraum war von den Dörflern spärlich besetzt, aber ausreichend, um den weltlichen Chorus zu stärken. Giovanni erschauerte, als sich die Stimmen der Schwestern in der Liturgie erhoben. Eine wundervolle Akustik, die Töne rein und berauschend. Als die Besucher im Kirchenschiff am Ende einen Psalm intonierten, hörte er sie. Margarita, die Perle. Sicher in den Oktaven.
Er hätte sich gern näher gesetzt, da war das Komplet schon vorüber. Margarite des Germes verschwand als Erste.
Giovanni sprach Schwester Benedikta, die Betreuerin der Gäste an. Er hatte sich zur Gewohnheit gemacht, für die Freundlichkeit der Gastgeber kleine Gefälligkeiten anzubieten. Die Ordensschwester schien erfreut. Er durfte die Pflanzen im Innenhof gießen.
Sobald sie Knospen ansetzten, brauchten sie viel Wasser. Der Vorgang dauerte keine halbe Stunde, Giovanni zögerte ihn hinaus. Durch das Fenster der einen Zelle hörte er ein Psalterium. Auch in Florenz, wie in vielen großen Städten Italiens, gab es Frauen, die dieses Instrument beherrschten. Giovanni hatte es lange nicht gehört. Einer seiner Malerfreunde übte täglich seine Stücke. Es klang nicht annähernd so fein wie dieses Spiel. Das Rätsel war gelöst, im Kasten des Dieners von Margarite des Germes befand sich ein Instrument.

Giovanni lag noch wach, während sich der Mond ins schmale Fenster seiner Zelle schob. Er führte in seinen Gedanken den Silberstift über das Papier, um die Züge der jungen Herzogin festzuhalten. Als wäre er am Zeichenbrett, verwarf er immer wieder seine Versuche. Er erhob sich, öffnete behutsam die Tür und schritt leise in den Innenhof. Der Mond beleuchtete die schlafenden Blüten. Nur die Rosen streckten ihre hellen Köpfe dem Nachtlicht zu.
Sie können nicht genug haben, die Schönen, hörte er eine Stimme hinter sich. Sie saß im Schatten auf einem der Ecksteine an den Beeten. Ihr kommt nicht aus den Pyrenäen. Wer seid Ihr?
Margarite sprach ihn an, als wäre er ein Edler. Was auch immer sie in ihm sah, es machte ihn froh. Giovanni war seit Jahren auf der Flucht, die Haltung eines freien Bürgers von Florenz hatte er bewahrt.
Ich komme aus dem Osten und bin auf dem Weg nach Santiago de Compostella. Mein Name ist Giovanni Bordino di Firenze. Ich hatte die Absicht, über Carcassonne nach Toulouse zu ziehen, um dort ein Geschäft zu tätigen, ehe ich mich nach Süden wende. Es ehrt mich sehr, dass sich unsere Wege kreuzen.
Margarite ging auf die Schmeichelei nicht ein. Also Florenz, meinte sie. In Eurer Stadt soll es Frauen geben, die die heilige Mathematik beherrschen. Kennt Ihr die gelehrten Damen?
Mit dieser Frage legte sie ihr Herz in seine Hand. Er konnte ihr erzählen, was er wusste, sie würde es mögen. Er entzog sich einem Ja oder Nein. Natürlich, begann Giovanni, gibt es viele achtbare, kluge Bürgerinnen wie Edle Damen, die sich lieber mit klugen Dingen als mit Stickerei beschäftigen. In meiner Heimat blühen die Künste und die Wissenschaften. Die Bibliothek der Medicis steht für jeden Bürger, jede Bürgerin, gleich welchen Standes offen. Mir scheint, je weiter ich nach Westen komme, um so strenger teilen sich Volk und Adel und die Bürger halten sich klein. Das muss an den Kriegen liegen, die Ihr seit hundert Jahren führt.

Krieg ist für mich der Irrweg der Männer, meinte sie. Mein Herr, der Herzog Franz schickte mich zu meinen Eltern nach Navarra, als er wieder eine Schlacht plante. Ich verstehe nicht den Sinn, mit Blut ein Reich zu schaffen.
Sie klang jetzt traurig und müde. Margarite kam also aus Navarra, das war nichts, womit Giovanni etwas anfangen konnte. Und der Gedanke an Krieg erinnerte ihn nur an seine eigene Tat. Er mochte nicht darüber reden. Also sprach er von ihrem Saitenspiel, von der Notenschrift und den Damen in den italienischen Städten, die weltliche Musik wie auch Kirchenlieder komponierten. Margarite stellte Fragen.
Bischöfe, sogar der Papst fördern diese Damen? Ich habe mit meiner Musik die Mystik der Zahlen entdeckt, die göttlichen Gesetze. Aber seit mein Lehrmeister verstarb, gibt es an meinem Hof nicht einen einzigen Menschen, den das interessieren könnte. Sie alle beschäftigen sich mehr mit ihrer Kleidung oder mit ihren Waffen und Pferden als mit schönen Künsten und Wissenschaften.
Wie einsam sie sich fühlte. Giovanni, der sich di Firenze nannte, hatte mit ihr Mitleid. Ihre Offenheit mochte naiv sein, nur der Mondnacht, der zerbrochenen Achse ihrer Kutsche und dem Fremden geschuldet, er spürte plötzlich, dass er ihr die Wahrheit sagen konnte. Nicht alles auf einmal. Zuerst das Wesentliche.
Meine Profession ist das Handwerk der Goldschmiede, Gravur nach den Florentiner Werkstätten im Besonderen. Noch geschickter bin ich in den freien Künsten. Ich zeichne, kann in Kupfer stechen, wenn es gebraucht wird, doch am liebsten male ich. In allem kann auch ich die Zahlenmystik wiedergeben. Es wäre mir eine große Ehre, einmal ein Porträt von Euch anzufertigen, schloss er.
Margarite lächelte. Das einzige Porträt, das ein Maître von mir zeichnete, ließ mein Vater vor der Hochzeit mit dem Herzog in Auftrag geben. Ich war so jung, so einfältig. Ich sehe es heute noch in einer Ecke unseres Schlosses, in meinem Musikzimmer. Da schaut micht eine Fremde an.
Er wollte sie nicht in dieser Stimmung lassen. Giovanni kniete sich neben sie.
Ihr seid in der Blühte Eurer Jahre, eine Perle unter den Frauen, ich bitte Euch, lasst mich Euch zeichnen, bevor Ihr weiterreist. Als Überraschung für Euren Gemahl. Ich brauche keinen Lohn dafür, ich möchte nur Gott, den Herrn preisen, dass er der Welt ein so selten schönes Gesicht zeigt.
Eure Sprache ist kühn. Kein Franzose würde es wagen, über mich mit diesen Worten zu reden. Euch fehlt der Geist des Untertanen. Sind alle Künstler Italiens so unverschämt?
Sie klang zu gefasst, als dass er ihre Kritik nicht ernst nehmen sollte. Giovanni bat um Verzeihung.
Ich bin ein Fremder auf einem langen Weg, kenne die Regeln des Hofes nicht und nicht die Gesetze des Landes. Mir scheint, hier zählt zuerst die Demut vor allen weltlichen Herrn. Ich habe gelernt, vor allen anderen den Einen zu ehren, ihm ewige Unterwerfung zu versprechen. Meine Religion wurde stets auch von den alten Regeln geprägt. Italien gab und gibt seinen Bürgern mehr Raum als die anderen Länder Europas. Hierzulande sind Bürger nur ein Teil einer strengen Hierarchie. Doch nicht das Trennende schafft große Werke, sondern die Vereinigung der Kräfte. Als Fremder bringe ich mich immer wieder in Schwierigkeiten. Es war nicht meine Absicht, Euch zu kränken, meine Meisterin.
Tatsächlich nannte er sie so: ma maîtresse. Sie lachte jetzt laut heraus. Ihr klingt wie ein Troubadour, der unsere Sprache nicht kennt. So nennt man Damen in einem Liebesverhältnis.
Um nicht in gefährliche Gedanken verstrickt zu werden, lenkte sie auf ein anderes Thema. Was sucht Ihr in unserem Land, Giovanni? fragte Margarite. Wollt Ihr die Stätten der Häretiker von Carcassonne besuchen?
Giovanni schüttelte den Kopf. Er musste sich sammeln. Je länger das Gespräch lief, um so mehr riskierte er Kopf und Kragen. Von seinem Anliegen entfernte er sich damit immer mehr.
Ihr meint die Reinen, die Katharer, die vor langer Zeit vertrieben wurden? Sie lebten eher im Norden meines Landes als im Süden. Wir Florentiner sind nicht nur toleranter, weltlicher, wir lassen uns auch ungern auf Spekulationen ein. Unser Papst führt die Geschäfte des Himmels, wir die der Erde. Florenz ist dadurch eine der reichsten Städte Europas und gibt Künsten aller Art Brot und Ehre. Wer hundert Jahre Krieg führte, wie Euer Land, und immer noch nicht zur Ruhe kommt, der hat weder Muße noch Geld dafür.

Also doch, Ihr seid ein Ketzer. Behaltet diese Weisheit für Euch, Giovanni, wenn Ihr Santiago lebend erreichen wollt. Die kleinen Fürsten und Barone werden Euch diese Sprache übel nehmen. Ihr Stolz ist in den Himmel gewachsen.
Giovanni, der Büßer auf dem Pilgerweg, der Goldschmied, Graveur und Kupferstecher, der Maler und Zeichner schrumpfte. Sein Übermut verschwand wie die Nachtwolken.
Der Mond war gewandert und beschien sein Gesicht. Die dunklen Locken, die auf die Schultern fielen, die dichten Brauen und der volle Mund unter der langen Nase gaben seine Jugend preis. Margarite de Germes schätzte ihn auf siebenundzwanzig, etwa ihr Alter. Sie waren weit von einander entfernt geboren worden, beide in wohlhabenden Verhältnissen, doch von unterschiedlichem Stand. Ihre Wege kreuzten sich vor Carcassonne. Gott im Himmel wusste, warum.
Giovanni hatte sich von der ersten Minute an wie ein gentilhomme verhalten. Margarite des Germes mochte ihn, wollte seine angenehme Art nicht missen.
Ich kann nicht schlafen, es ist noch vor Mitternacht. Holt Euer Zeichenbrett, gab sie nach.
Verzeiht Herrin, der Mond versteckt sich immer wieder hinter Wolken. Das wirft Schatten auf Eure Züge. Ich brauche ein stetes Licht.
Später wusste die Herzogin nicht mehr, warum sie so unbedacht entschied.
Dann kommt ans Gästezimmer der Abtei, sagte sie und erhob sich. Ihre Kleider raschelten, sie ging zur Pergola und ließ ihn erstaunt zurück.