Fluchtversuch

Kriminalkommissarin Gitta Jagoda und ihre Fälle

Kriminalkommissarin Gitta Jagoda, Mitte Dreißig, hat ihr Jurastudium abgebrochen, um zur Polizeifachhochschule zu wechseln. Obwohl sie Jahrgangsbeste wird, lässt man sie im Revier Nord Streife fahren, im Dresdner Viertel, in dem sie aufwuchs. So scheint es immer zu sein. Lernen auf die harte Tour.
Gitta bewirbt sich für eine Stelle in der Mordkommission im Dezernat 1, als die Mord 2 gebildet wird. Gruppenleiter Hauptkommissar Jaro Handel und der Kriminalkommissar Felix Brauhaus, Fix genannt, könnten nicht unterschiedlicher sein. Der eine ein Abkömmling eines Hamburger Patriziergeschlechts, fördert die junge Kollegin, der andere, ein intelligenter Informatiker, aber träger Bulle, hilft ihr gern mal einen Auftrag über, den er selbst erfüllen sollte. Diesmal sind ihre Kollegen in der SOKO Krobatsch eingebunden. Gitta Jagoda muss mit einem unerfahrenen Praktikanten den Mord an einem Flüchtlingsmädchen klären.

F L U CH T V E R S U C H

VASNA I. TRUPIS
Leseprobe

Halte Dich ans Leben, egal wie
absurd, abstoßend oder quälend
es sein mag.

Paul Auster; Bericht aus dem Inneren

1


Die kleine Leiche lag zwischen einem Motorrad, das unter einer Plane verrottete, und einem Skoda mit platten Hinterreifen. Sie lag auf dem Rücken, trug eine dunkelgrüne Hose unter dem geblümten Kleid. Ein Anblick, der befremdete. Die letzten Tage und Nächte waren unerträglich heiß gewesen.

Als sie die Leonhard-Straße erreichten, beschwerte sich Polizeianwärter Brambacher. Warum Hechtviertel? Ich sehe weit und breit kein Wasser.
Keine Ahnung, warum es so heißt, log Kriminalkommissarin Jagoda. Sie fuhren zu einem Tatort, nicht auf einer Sightseeingtour.
Brambacher war mit der Antwort unzufrieden. Komischer Ort, setze er nach. Komisch war ein anderes Wort für seltsam und Seltsam war der Planet, auf dem er sich nicht auskannte. Johannes Brambacher kam aus Bautzen an der Spree. Er war vor einigen Wochen probeweise in die Mord 2 übernommen worden.
Gitta Jagoda stieg vor ihm aus dem Wagen. Mitte Dreißig und einen Kopf kleiner als der junge Kollege. Die Schultern schmal, die Haare kurz und glatt, als würde sie sie ständig striegeln. Weder blond noch braun und so unauffällig wie ihr Profil. Auf den ersten Blick nahm niemand sie ernst. Was ihr völlig egal war. Jagodas Partner Felix sagte dazu gerne: Zur Not hast du deine Klappkarte und die alte P7. Im Augenblick benötigte sie keins von den dreien.
Vor Jahren wäre Kriminalkommissarin Jagoda an diesem seltsamen Ort zu einem Heimspiel angetreten. Da arbeitete sie im Revier Nord. Das war nicht der einzige Grund, warum sie im Hechtviertel sofort auf Tuchfühlung ging.
Vor vielen Jahren stand ihre Großmutter als Verkäuferin im Gemüseladen an der Ecke. Oma wohnte ihr Leben lang vorn an der Königsbrücker Straße, für müde Füße drei Minuten Fußweg entfernt, im selben abgewirtschafteten Haus wie Gitta mit ihrer Mutter.
Freundinnen aus der Klasse hatten in den Mietswohnungen des Hechtviertels gehaust. Da war die Großmutter schon eine Weile tot und Gittas Mutter überließ die Tochter der Fürsorge von Tante Louise. Louise wiederum war nur dreieinhalb Ecken weiter auf den Bischofsweg gezogen.
Mit Studienbeginn tauchte die Neunzehnjährige in die Johannstadt ab, einen Stadtteil, der auf der anderen Elbseite lag und zur Hälfte aus Stahlbeton bestand. Von dort hielt die Jurastudentin mit Hilfe der Linie 13 Kontakt zum Hecht und zu ihren Kommilitonen in den billigen WGs. Sie paukten gemeinsam Paragraphen, tranken im Leonhardo Wein oder gingen ins nahe Kino. Die Stadt an der Elbe posaunte an allen Ecken und Enden ihre Eitelkeiten in die Welt, hier musste man lange danach suchen. Denn das Hechtviertel besaß weder eine vergoldete Vergangenheit, noch gab es jemals Versprechen auf die Zukunft ab.
Gitta Jagoda wunderte sich nicht, dass sich so wenig verändert hatte. Die holprige Straße, blinde Fenster, im Durchgang zwischen zwei Häusern leere Flaschen. Ein kleiner Supermarkt, rot-gelbes Schild über dem Eingang, duckte sich links in einen Seitenflügel.
Rechts ab, vor dem Ladeneingang hatte man die zwei Hinterhöfe der Leonhard-Straße 22 bis 24 in einen bescheidenem Parkplatz betoniert. Dieser grenzte an einen verwilderten Hang zum stillgelegten Bahndamm. Der Platz, der Hang, der Damm boten einen trostlosen Anblick.
Die beiden Häuser zeigten ihnen ihre Rückseite mit heruntergelassenen Hosen. Aschgrauer Fassadenputz; auf den Metall-Balkonen verwitterte Klappstühle statt üppiger Blumenkästen, rissige Tontöpfe, Wäschetrockner, anderer Krempel. Auch mürrisches Publikum. Es starrte auf den Parkplatz-Zement. Die Neugier der Anwohner hing wie Mundgeruch in der Morgenluft.
Polizisten vom Revier Nord hatten engräumig weiß-rote Absperrbänder gezogen. Kriminalkommissarin Jagoda ging auf die Uniformierten zu. Sie begrüßte als ersten den Polizeiobermeister Horst Weigelt. Gerne hätte sie ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber Dr. Katz winkte vom Ende des Parkplatzes. Niemand ließ die Pathologin warten. Weigelt folgte der Kommissarin ohne Groll. Er hatte schon gesehen, was Jagoda erst zur Kenntnis nehmen musste.

Die kleine Leiche lag zwischen einem Motorrad, das unter einer Plane verrottete, und einem Skoda mit platten Hinterreifen. Sie lag auf dem Rücken, trug eine dunkelgrüne Hose unter dem geblümten Kleid. Ein Anblick, der befremdete. Die letzten Tage und Nächte waren unerträglich heiß gewesen. Auch die fein gestrickte Wollmütze auf dem Kopf und die Strickjacke passten nicht in diesen überhitzten August. An den Füßen steckten abgestoßene Stoffschuhe. Hand- und Fußgelenke waren kindlich zart. In der Rechten hielt das Mädchen einen Plaste-Beutel mit Fladenbrot, Tomaten und Käse fest. Die Linke war auf den blutbefleckten Bauch gepresst.
Warum sie keiner früher entdeckt hat, begann der Polizeiobermeister. Es sollte kein Fragesatz werden. Er war seit 30 Jahren im Dienst und fragte nicht mehr. Er ergänzte ebenso fraglos: Der Supermarkt hat bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet. Sieht aus, als wäre sie kurz vor Ladenschluss zum Einkauf geschickt worden.
Johannes Brambacher hatte sich die Sonnenbrille aufgesetzt, den Dienstwagen verriegelt und sich beeilt, die anderen einzuholen. Er machte einen Schritt rückwärts, als er die Tote sah. Man müsste Leute einsperren, die ihre Kinder nachts herumlaufen lassen. Sinnloser Satz. Vielleicht war es die Hoffnungslosigkeit, die Brambacher nervte.
Sie ist kein Kind mehr, aber noch keine Frau, korrigierte die Kriminalkommissarin den Praktikanten. Rumänin, Albanerin, Türkin oder was weiß ich, überlegte Jagoda. Sie wollte die Meinung der Pathologin hören. Was meinst du, Jana, wie alt ist sie?
Dr. Katz seufzte. Schlecht zu schätzen. Etwas kleiner als der hiesige Teenager-Durchschnitt. Ich vermute, zwischen vierzehn und sechzehn. Sie liegt seit etwa zehn Stunden hier.
Die Pathologin hob behutsam die Linke des Mädchens an, um der Kommissarin die Verletzungen zu zeigen. Zwei Einstiche mit schmaler Klinge, fingerbreit unterhalb des letzten Rippenbogens. Starke intraabdominale Blutungen. Möglicherweise wäre sie bei sofortiger Hilfe zu retten gewesen, ergänzte sie zögernd. Mehr kann ich jetzt nicht sagen.
Gitta Jagoda blickte Jana Katz an. Das schmale, strenge Gesicht zeigte keine Emotionen. Der harte Ton ihrer Stimme hatte nichts mit der frühen Morgenstunde zu tun. Dr. Katz fühlte sich beschissen. Tötungsdelikte an Kindern, Jugendlichen machten sie wütend. Wut war keine wissenschaftliche Disziplin. Die Pathologin riss sich zusammen, erhob sich, streifte ihre Latex-Handschuhe ab und strich sich die widerborstigen Strähnen aus der Stirn. Vorläufiger Bericht nicht vor vierzehn Uhr. Der Transport ist bestellt. Ich muss wieder los.
Als sie sich umdrehte, lief sie Henning Helbig von der Kriminaltechnik in die Arme. Der errötete auf eine Art, wie nur die Weißblonden ihre Farbe wechseln. Gitta lächelte über die beiden. Dann besann sie sich auf das tote Mädchen. Zeugen? fragte sie den Kollegen von Nord.
Horst Weigelt wies auf die Rückseite der Nummer 22. Nur wenige Neugierige auf dem Balkon oder am Fenster. Der Mord hatte sich noch nicht herumgesprochen.
Siehst du die Frau, die raucht? fragte er. Isa Ruppert, 38. Sie rief gegen sieben an. Wir haben sie gebeten, auf euch zu warten. Du wirst sie selber sprechen wollen. Die anderen Mieter werden wir nur nach und nach übernehmen. Du weißt, wir sind seit den Etatstreichungen unterbesetzt.
Danke, Horst. Ich muss vorher mit Helbig reden. Kannst du inzwischen unseren Praktikanten einweisen? Johannes Brambacher, Horst Weigelt. Ihr kümmert euch um die Befragung in den Vorderhäusern. Ich rede mit der Anruferin und gehe anschließend in den Supermarkt.
Dr. Katz war verschwunden, aber Henning Helbig von der KTU stand immer noch am selben Fleck. Henning, warum bist du so spät dran?
Der große, stämmige Mann erblasste nun. Frag das die Telefonzentrale. Sie haben uns als Letzte informiert. Anfänger sind eine Katastrophe in unserem Job. Auch wir sind unterbesetzt. Vorerst mit mir nur zwei Leute.
Er beachtete Brambacher mit keinem Blick.
Gitta war froh, dass ein erfahrener Kollege wie Weigelt den Platz bereits gesichert hatte. Sie war froh, dass Henning übernahm, war froh, nicht allein zu sein mit der kleinen Toten in der verdreckten Ecke und den Leuten im Rücken. Falsche Zeit, falscher Ort, ging es ihr durch den Kopf. Als könne ein lächerlicher Spruch dem Tod die Sense stehlen.
Gitta Jagoda würde nie verstehen, warum mit Tätern ein perverser Heldenkult getrieben wurde, die Opfer dagegen nur bedauernswerte Nebensache waren. Sie hatte schon oft erlebt, wie das Leben wirklich spielte. Es waren die Ermordeten, die eine unvergessliche Geschichte erzählten, die Mörder jedoch waren in ihrer Banalität einander beängstigend ähnlich. Das Beste, das sie jetzt tun konnte, bestand darin, die Presse und andere Aasgeier vorerst fern zu halten.

2

Sei doch froh, dass du mal einen eigenen Fall hast, entgegnete Nicole. Sie schielte nach der Tür zum Chefzimmer. Gitta schüttelte den Kopf. Warum nur verstanden so wenige Leute im Haus die Kollegen aus der Mordkommission?

Der Tages-Rapport hatte länger gedauert. Mitarbeiter aus dem Dezernat 1 verteilten sich eben auf ihre Zimmer, als Gitta Jagoda den Fahrstuhl verließ. Hauptkommissar Handel kam ihr entgegen. Gut, dass du zurück bist, sagte er. Ich stehe auf Abruf. Hohenkampf will mich unter vier Augen sprechen. Dafür brauche ich eine kurze Pause zum Nachdenken. Kannst du mir inzwischen ein paar Unterlagen aus der WiKo holen?
Viel zu viele Sätze. Ihr Gruppenleiter war weisungsberechtigt. Er machte es auf die samtige Tour. Er verteilte ungern Druck von oben nach unten.
Der Fall Krobatsch ging in die dritte Woche. Ein Mordversuch, als Selbstmord inszeniert. Das Opfer lag im künstlichen Koma. Man verdächtigte rivalisierende Gruppen. Gestern war noch unklar, wann das LKA übernahm. Nach Auffassung des Dezernatsleiters sollte ressortübergreifend eine SOKO Krobatsch gebildet werden.
Kriminalrat Hohenkampf, zuständig für „Höchstpersönlichen Rechtsgüter“ arbeitete seit diesem Frühjahr mit wechselnden Personalkonzepten. Jede Woche entschied er neu, wer zu welchem Fall hinzu kam oder abgezogen wurde. Jaro Handel, Gruppenleiter der Mord 2, hatte an diesem Morgen keine Wahl gehabt. Er musste Gitta allein ins Hechtviertel schicken. Nur der Praktikant Johannes Brambacher war entbehrlich gewesen. Nun sollte Kriminalkommissarin Jagoda die Hauspost spielen. Wäre nicht so demütigend gewesen, wenn Handel nach dem neuen Fall gefragt hätte.
Noch mehr störte Gitta, dass er sich davor drückte, selber in den zweiten Stock zu fahren. „Wirtschaft und Vermögen“ war enger mit dem Dezernat 1 verbunden, als Jaro recht sein konnte. Er kam mit dem Leiter des Wirtschaftsdezernats nicht klar. Sie waren einander ziemlich ähnlich. Mittelgroß, mager, Mitte vierzig, brünetter Typ. Gewissenhaft, fast pedantisch, aber überraschend in ihren Entscheidungen. Einen erheblichen Unterschied gab es dennoch. Handel war ein Eigenbrötler und frisch geschieden. Kleinschmidt, der Dezernatsleiter der Wirtschaftskriminalität hatte vier Kinder und verbreitete gern die Aura eines strengen Übervaters.
Der einzige Grund, warum Gitta den Auftrag ihres Gruppenleiters ohne Widerspruch annahm, hieß Nicole Brettel. Ihre beste Freundin saß im Vorzimmer des Dezernats 2. Sie arbeitete doppelt solange wie Gitta im Haus, brühte gerne einen Tee für ihre Freundin, hatte oft einen beruflichen Rat, ein Mut machendes Wort für sie.

Der Ordner Sievert AG lag bereit. Nicole hackte mit ihren langen dünnen Fingern auf der Tastatur herum, wühlte sich durch die Aktenberge, die der Dezernatsleiter auf ihrem Schreibtisch abgeladen hatte. Ein Blick zur Seite und sie fragte, was los sei. Du siehst beschissen aus, Gitta.
Danke. Ich musste heute Morgen eine Mädchenleiche bergen lassen. Die Jungs hatten dafür keine Zeit. Rapport bei Kriminalrat Krampf.
Sei doch froh, dass du mal einen eigenen Fall hast, entgegnete Nicole. Sie schielte nach der Tür zum Chefzimmer.
Gitta schüttelte den Kopf. Froh sein über eine Tote, die noch nicht lange genug gelebt hatte, um sich zwischen Kind und Frau sein entscheiden zu dürfen. Warum nur verstanden so wenige Leute im Haus die Kollegen aus der Mordkommission? Vielleicht die im Dezernat 4, Personenfahndung, die waren näher dran.
Gitta schnappte sich die Sievert-Unterlagen und verschwand. Fuhr ins Erdgeschoss zur Vermisstenstelle. Da saß Anna Drache, zugewanderte Deutschrussin und am Anfang ihrer Polizeikarriere.
Sei so gut, hilf mir weiter. Wir haben eine Tote, ich sag mal: zwischen 13 und 16, maximal 1 Meter fünfundfünfzig, Mittelmeerraum. Hast du eine passende Anzeige?
Anna Drache strich sich mit beiden Händen über ihre Sauerkrautlocken, als könnte sie sie damit bändigen. Sie musste nicht im Computer nachschauen. Nur ein Kleinkind und zwei halbe Bosnier, Brüder mit deutschem Pass. Seit Juli keine weiteren unerledigten Anzeigen, antwortete sie. Ich gebe dir Bescheid, sobald eine passende Meldung hereinkommt.
Gitta Jagoda fuhr in den dritten Stock zurück und überwand sich, das sogenannte Sekretariat zu betreten. Sie und Elvira Müller waren die einzigen Frauen bei der Mord, aber Gitta hielt sich die Gleichaltrige so weit wie möglich auf Abstand. Polizeimeisterin Müller saß im Vorraum zu den beiden Hauptkommissaren, aber im Grunde arbeitete Elvira seit Jahren ausschließlich für den jeweiligen Dezernatsleiter. Gitta Jagoda klopfte absichtlich nicht an. Sie bereute es sofort. Jaro und Elvira standen mehr als nahe nebeneinander. Sie blätterte in einem Ordner, er ließ sie machen. Sie drehten Gitta den Rücken zu und wendeten sich gleichzeitig um.
Kannst du nicht anklopfen? beschwerte sich Elvira mit einer Stimme, die einen Tick zu hoch lag. Sie war stellenweise gerundeter als Kommissarin Jagoda, trug keinen BH unter ihrem Seidentop. Ihre pink getönte Mähne war ein Aufschrei an schlechtem Geschmack.
Gitta hatte den Verdacht, dass es Elvira gerade mit ihrem provokanten Aussehen gelungen war, aus der Uniform in die zivile Garde des Präsidiums aufzusteigen. Polizisten kannten sich einfach nicht aus in Stil und Modefragen. Möglich, dass Gitta auch nur von sich auf andere schloss.
Jaro Handel ging ein paar Schritte auf sie zu, nahm Gitta Jagoda die Unterlagen ab und bedankte sich kurz, aber herzlich. Für ihn war Höflichkeit keine Formsache sondern Taktik. Ihm lag viel daran, alle bei Laune zu halten. Er wollte es sich weder mit Elvira noch mit Gitta verderben. Handel war ein kompromissbereiter Mensch. Ein Charakterzug, den Gitta an anderen Männern verachtete. Keine Ahnung, warum sie ihn bei Jaro durchgehen ließ.
Wann können wir über das Hechtviertel reden? fragte sie ihren Gruppenleiter.
Halbe Stunde noch, bat er und tippte auf das Material, das sie ihm übergeben hatte. Hohenkampf musste zum Staatsanwalt, ich habe einen Aufschub bekommen.

Sie roch es, als sie das Zimmer betrat. Ihr Partner Felix Brauhaus, irrtümlich Fix genannt, hatte heimlich geraucht. Er war am Tag seiner Hochzeit zum Nichtraucher konvertiert und hatte sich leichtsinnigerweise auch im Präsidium geoutet.
Die Ehe hielt er immer noch für die beste Entscheidung seines Lebens, das andere Versprechen an seine Heike hielt er für einen Fehler. Weil er sich auch vor Kollegen nicht bloßstellen wollte, zog er seine Zigarette im gemeinsamen Zimmer durch.
Der Tag war nicht zur Hälfte gelaufen, da hatte Felix schon mehrmals seine Lunge gequält.
Als Gitta Jagoda eintrat, saß er gewichtig auf seinem quietschenden Bürostuhl und ackerte am Fall Krobatsch.
Unsere SOKO steht. Lohnt sich das Ding im Hechtviertel? fragte er, ohne von seinem Monitor aufzublicken.
Das Ding ist ein minderjähriges, totes Mädchen, reagierte sie verbittert. Im übrigen suche ich Brambacher. Der Junge sollte mir die Ergebnisse seiner Befragung geben.
Email-Box? fragte Felix Brauhaus.
Ich brauche ihn selber. Ich muss mit ihm reden. Reden mit Fragen, Antworten, Austausch von Ansichten, mit Blickkontakt, möglichst in einem Raum. Kennst du das noch?
Gehen wir was essen! schlug Fix versöhnlich vor. Er musste nicht auf seine Uhr schauen, um zu wissen, dass es Zeit für einen ersten kräftigen Happen war.

3

Gitta Jagoda dachte nach. Mal von potentiellen Totschlägern und Mörderinnen abgesehen, war ihre Arbeit in der Regel tatsächlich eine Angelegenheit, bei der sich niemand die Finger schmutzig machte.

Gerüche, Geräusche; eine Riesenwelle schlug ihnen entgegen. Im Meer der Kantinengäste, fanden sie zwei Plätze an Reißmüllers Tisch. Der Leiter der Personenfahndung war ein schlecht rasierter Mann mit Halbglatze. Er schien schon als Alter auf die Welt gekommen zu sein. Obwohl er der selben Generation wie Jaro Handel angehörte, hatte er kein Interesse an den schönen Seiten des Lebens. Gitta Jagoda lernte Harald Reißmüller im Frühjahr näher kennen. In seinem karierte Baumwollhemd und der knittrigen Jeans beeindruckte er sie mehr als ihr neuer Dezernatsleiter im Maßanzug. Die Sympathie funkte wechselseitig.
Im Haus wie in der Kantine war Harald Reißmüller eine Respektsperson, sein Markenzeichen die aufgeklappte Tageszeitung. Er wollte einen Vierertisch für sich allein haben, egal zu welcher Tageszeit. Gitta Jagoda ließ sich ungefragt ihm gegenüber nieder. Reißmüller blickte über den Rand der Neuen Sächsischen.
Anna hat mir gesagt, dass ihr ein totes Kind gefunden habt, meinte er.
Eine Jugendliche, korrigierte Gitta Jagoda und machte sich daran, eisgekühlte Kirschsuppe zu löffeln. Felix war ihr gefolgt und nickte nur. Er sah keinen Anlass, irgendwas zu sagen, solange er seinen Teller mit den Bouletten-Brötchen nicht geleert hatte.
Schon mal an das Erstaufnahmelager gedacht? Reißmüller schien ehrlich interessiert. Ich wüsste keinen Ort in dieser Stadt, wo Leute schneller verloren gehen. Manchmal ganz legal. Vorgestern haben die Jungs vom Gerede e.V. vier Araber herausgeholt, die von den eigenen Leuten misshandelt wurden. Darunter war einer, dessen Vater fast Amok gelaufen ist, weil sein 18jähriger Sohn verschwand, ohne sich zu verabschieden. Dass der Junge in eine Schwulen-WG zog, hat den Alten noch mehr aufgebracht. Sein Sohn sei nicht krank. Sein Sohn sei in seiner Heimat ein Kämpfer gewesen, ein Fußballspieler und Held. Nicht einmal Zeus weiß, wie wir in diesem Chaos ermitteln sollen, falls wir mal müssen.

Mit Zeus war der Polizeipräsident Lorenzeus gemeint. Felix lachte, dass ihm der dritte Hemdknopf von unten aufplatze. Ich danke jeden Morgen allen Göttern, sagte er zu Reißmüller, dass wir von ihm nicht in die Einsatzteams gesteckt werden. Weder in das Lager noch zwischen Demonstranten, die sich über die Aufnahmelager hermachen. Dagegen sind unsere Toten eine saubere Sache.
Gitta mochte es nicht, wenn in der Kantine über Politik geredet wurde. Politik schlug ihr beim Essen auf den Magen. Selbstverständlich redeten alle hier über ihre Arbeit, öfter auch über Autowerkstatt und Schrebergarten, den Fußballclub oder die Familie. Reißmüller nicht. Er las Zeitung und redete nur, wenn er jemanden mochte.
Gitta Jagoda dachte nach. Mal von potentiellen Totschlägern und Mörderinnen abgesehen, war ihre Arbeit in der Regel tatsächlich eine Angelegenheit, bei der sich niemand die Finger schmutzig machte. Oder war das eine von den Legenden, die man sich nur zu gern erzählt? Gut möglich, das Mädchen könnte zu den Flüchtlingen gehören. Dagegen sprach: Das nächste Aufnahmelager war vier Kilometer Luftlinie vom Ort entfernt, an dem die Kleine Fladenbrot und Tomaten gekauft hatte. Vier Kilometer über Land bedeuteten für Flüchtlinge nicht viel. In einer fremden Großstadt dagegen war es für eine Minderjährige der Marsch durch einen erbarmungslosen Dschungel.
Gitta hatte ihre Suppe ausgelöffelt, nahm das Rosinenbrötchen, dass sie noch nicht angerührt hatte, und erhob sich. Sie dankte Reißmüller für den Tipp.
Minuten später hing sie am Telefon und redete mit Louise Baum, freischaffender Journalistin, die sich nach 35 Berufsjahren in mehreren Ressorts ihre Themen selbst wählen konnte. Tante Lou war in Sachen Zeitung und Stadtgeschichten mindestens ebenso erfahren wie Reißmüller.
Was hältst du von euren Suchmeldungen? fragte Gitta.
Kommt darauf an, wer gesucht wird, antwortete Louise mit ihrer Billy-Holday-Stimme. Manchmal wollen Menschen nicht gefunden werden und haben auch das Recht dazu. Dann ist der Schaden größer als der Nutzen.
Wir haben sie schon gefunden. Ein neuer Fall, fast noch ein Kind, aber bisher kein Anhaltspunkt, wer, woher und warum.
Du und deine Toten, seufzte Tante Lou. Kommst du heute Abend? Es wird nicht kühler als gestern sein. Ich könnte dir was Kaltes, wie Tarator und Gjuwetsch mit Mizzis anbieten.
Gitta lachte herzlich. Hast du auch schon den Balkanblues? Die Kleine läuft mir nicht mehr davon, so sehr ich es ihr gegönnt hätte. Ich komme und bringe Rotwein mit.
Bring Hunger mit. Den Wein habe ich bereits gekauft. Du weißt doch, dass ich meine eigenen Quellen bevorzuge. In jeder Beziehung. Noch einmal zu deiner Frage. Eine Vermisstenanzeige in den Medien könnte zur Identitätsbestimmung nützlich sein. Vergiss nicht, das Foto in Schwarz Weiß anzuhängen. Wir haben dann weniger Aufwand beim Bearbeiten. Louise Baum beendete ihr Gespräch ohne Gruß.

Gitta Jagoda war mit sich zufrieden. Zeitungsmeldungen haben eine breite Streuung und machten nicht so viel Wirbel wie eine Polizeiansage im lokalen Fernsehen oder im Internet. In den Lagern bringt das natürlich nichts. Da könnte man mehrsprachige Flyer aushängen. Auch im Fall, dass die Kleine bereits in eine der Wohnungen oder in ein Heim geschickt worden war, müsste irgendwer sie identifizieren, sogar wenn sie zu den so genannten allein reisenden Jugendlichen zählte. War das Mädchen eine Illegale im Land, zum Beispiel eine von den Zigeunerkindern aus Tschechien, brachte die Aktion nichts ein. Versuch macht kluch, hätte Tante Louise gesagt.
Johannes Brambacher, der Praktikant schien untergetaucht zu sein. Aber in ihrem Email-Postfach entdeckte Gitta eine Zusammenfassung seiner und Hauptmeister Weigelts Ermittlungen. Wenn er etwas gut konnte, dann das. Eine erste Zustandsbeschreibung der Toten und präzise Angaben zum Fundort. Leider dürftige Befragungsergebnisse in der näheren Umgebung. Entweder wollten die Bewohner der Leonhardt-Straße nicht öffnen oder sie waren nach 8 Uhr bereits unterwegs. Gitta druckte den Text und legte ihn zu ihrem eigenen in die Mappe.
Die Akte AZ23/2015 Unbek., weibl. begann mit einem Formular zur Person, das mehr Lücken als Einträge dokumentierte. Es folgte als erste Anlage die Befragung von Isa Ruppert, der Anruferin, die 7.05 Uhr in der Zentrale des Polizeipräsidiums den Leichenfund meldete. Köchin, 38 Jahre alt, wohnhaft in der Leonhard-Straße 22, 1. Stock rechts. Die Aussage von Isa Ruppert war kurz und knapp, aber ausreichend. Sie hatte ihre letzte Zigarette am Vorabend gegen halb zehn geraucht und keine ungewöhnlichen Bewegungen im Hinterhof bzw. auf dem Parkplatz bemerkt. Sie rauchte grundsätzlich nur auf ihrem Balkon, auch wenn der Freund nicht zu Hause war; die erste Zigarette immer früh gegen sieben. Da konnte Isa Ruppert von ihrem Balkon aus sehen, dass die Kleine in einer Blutlache lag. War unsicher, ob sie einen Krankenwagen rufen sollte oder die Polizei. Telefonierte mit beiden Notrufen. Eine Streife des Polizeireviers Nord war 7.11 Uhr vor Ort und benachrichtigte die Mordkommission. Der Krankenwagen traf 7.39 Uhr ein, wäre so oder so zu spät gewesen.

Weniger ergiebig war Gitta Jagodas Befragung im Supermarkt gelaufen. Die Kassiererin und zwei sogenannte Einräumerinnen hatten kurz vor 8 Uhr ihren Dienst begonnen und konnten über die Abendschicht keine Aussage machen. Dafür waren der Leiter und eine festangestellte Kollegin zuständig, die Letzten, die sich im Verkaufsraum aufgehalten hatten. Am Folgetag kamen sie nie vor zwölf.
Wir sind nicht groß genug, um mehr Personal einzusetzen, entschuldigte sich die Frau an der Kasse. Diese Information hatte Gitta Jagoda nur im Kopf gespeichert, ins Protokoll gehörte sie nicht. Sie hasste es, Ordner mit Berichten und Protokollen aufzublasen.
Gitta nahm ihr Smartphone und suchte nach Aufnahmen vom Tatort. Die von Henning Helbig waren ein anderes Ressort und für die Presse kaum verwendbar. Unzufrieden schickte sie Johannes Brambacher eine Nachricht. Brauche ein Foto, auf dem das Mädchen nicht so tot aussieht. Hast du was? Wo auch immer der Praktikant steckte, er antwortete sofort mit SMS und Anhang.
Brambacher war in die Hocke gegangen und hatte seinen Zoom aus einem flachen Perspektive von schräg oben gemacht, der Kopf schien deshalb leicht zurückgelehnt und breiter als in Wirklichkeit. Die Stirn wirkte schmal, am Kopfende war nur der Rand der Mütze zu sehen.
Die Kriminalkommissarin betrachtete das Gesicht mit den offenen, dunkelblauen Augen. Die dichten Augenbrauen und die gerade Nase standen fast im rechten Winkel. Der kindliche Mund war leicht geöffnet. Das Gesicht ließ keinen Schmerz erkennen, nur ein großes Staunen.
Gitta Jagoda entschloss sich, die Aufnahme zu verwenden. Sie telefonierte mit der Kriminaltechnik, um sich von Kriminalkommissar Helbig Details zu Kleidung und anderen persönlichen Dingen geben zu lassen. Anschließend verhandelte sie mit der Pressestelle. Sie wollte unbedingt einen eigenen Text formulieren. Dann machte sie sich noch einmal auf den Weg, die Mitarbeiter des kleinen Supermarktes zu befragen.

4

Ich erinnere mich an die Kleine, sie war kurz vor Ladenschluss hier. Um diese Zeit schiebe ich unseren Fußbodenreiniger durch die Gänge. Sie lief mir zweimal über den Weg. Hatte es eilig, als wäre sie auf der Flucht. Außer ihr waren zwischen neun und zehn nur die üblichen Verdächtigen im Laden.

Eine Geduldsübung, mittags von der Altstadt in die Innere Neustadt zu fahren. Gitta Jagoda nahm die Carolabrücke Richtung Albertplatz, von da nach langer Zuckelei einen Schleichweg, um zügig in die Leonhard-Straße zu kommen. Fuhr auf der Tannenstraße bis an den kleinen Park zwischen Königsbrücker Platz und Schanzenstraße und stellte ihr Auto unter den alten Kastanien in eine Parklücke. Auf dem Fußweg zum Supermarkt versuchte sie sich zu sammeln. Sie bog in den Durchgang zum Hof ein und warf einen Blick Richtung Parkplatz. Die dunkle Lache zwischen Auto und Motorrad hätte auch Öl sein können. Die Anwohner würden sich über einen Fleck mehr oder weniger nicht lange aufregen.
Im Laden machten sich mehrere Kunden zwischen den Auslagen zu schaffen. Kriminalkommissarin Jagoda sprach den einzigen Mann im Raum an, der einen Kittel trug, und hatte, wen sie suchte. Ja, er war der Verkaufsstellenleiter und über den Mord informiert. Er gab einer Frau, die Feinfrostgemüse auffüllte, ein diskretes Zeichen. Die junge Verkäuferin brachte ihre rote Kittelschürze fast zum Platzen. Dennoch bewegte sie sich geschickt zwischen den Warenstapeln bis zu einer Stahltür hindurch. Der Chef und die Kommissarin kamen erst nach ihr an. Zu dritt betraten sie das Lager mit seinen Flaschenkästen und hoch gebauten Kisten.

Was der Verkaufsstellenleiter als Büro bezeichnet hatte, erwies sich als Nische mit zwei Regalen, einem Tisch mit Rollcontainer, einem halb hohen Tresor und zwei Stühlen. Es war so eng, dass Gitta sich an den Schreibtisch setzen musste, was ihr gar nicht gefiel. Der Marktleiter überragte sie um mehr als einen halben Meter. Die Verkäuferin, die auf einem Kistenstapel Platz genommen hatte, blickte ebenfalls auf sie herab. Masse aus menschlichem Fleisch auf acht Quadratmetern.
Fast fühlte sich die Kommissarin von der Enge bedroht. Dass sich der Chef und die Angestellte schon über ihre Aussagen verständigt hatten, war sicher.
Gitta Jagoda stellte die üblichen Fragen zu ihren Personalien und zu Beobachtungen am Vorabend. Sie hatte ihr Handy auf Audioaufnahme gestellt, das musste genügen. Die rote Kittelschürze kam sofort zur Sache.
Ich erinnere mich an die Kleine, sie war kurz vor Ladenschluss hier. Um diese Zeit schiebe ich unseren Fußbodenreiniger durch die Gänge. Sie lief mir zweimal über den Weg. Hatte es eilig, als wäre sie auf der Flucht. Außer ihr waren ab neun nur die üblichen Verdächtigen im Laden, kurz vor zehn belebte sich das Geschäft noch einmal: eine Bekannte, die in der Kneipe nebenan arbeitet, ein Paar auf dem Heimweg, zwei Männer, die gemeinsam Schnaps kauften. Wie immer brauchten die Punks von der Stauffenbergallee Nachschub für ihre Bierkästen, dann kamen ein paar Nerds wegen Pizza und Cola vorbei, ein älterer Mann, um Zigaretten zu kaufen, und zwei Studentinnen für ihr Müsli und die Morgenjogurt. Das Mädchen stand vor ihnen an der Kasse. Ich hatte die Kleine schon einmal gesehen. Deshalb dachte ich, Eva schickt sie, weil sie wieder was vergessen hat.
Wer ist Eva? Gitta Jagoda blickte von der Dicken zum aufragenden Chef. Er zuckte mit den Schultern, die Kollegin erklärte. Eine Stammkundin, die zwei Häuser weiter wohnt. Eva hat eine Tochter, etwa im gleichen Alter. Zu dritt machten sie am Sonnabend den Wochenendeinkauf. Gestern dachte ich mir nichts dabei, als das Mädchen alleine kam. Ist sie eine Verwandte? Arme Eva.
Kriminalkommissarin Jagoda ging nicht auf die Frage ein. Kennen Sie den Nachnamen dieser Eva und die Adresse?
Da musste die Verkäuferin passen. Auch der Marktleiter, der im Spätdienst an der Kasse gesessen hatte, wusste nichts mehr zu sagen. Er behauptete, bis auf die Kleine und einen Zigarettenkäufer hätte er nur bekannte Gesichter gesehen.
Die Kriminalkommissarin versuchte es mit zwei letzten Fragen. Was geschah nach der Ladenschließung? Haben Sie nicht bemerkt, dass sich jemand auf dem Parkplatz herumtrieb?
Die Antwort übernahm wieder der Marktleiter.
Wir brauchen nach 22 Uhr immer eine Weile, bis wir alles unter Kontrolle haben. Wir sichern vorn die Türen, verstauen die Handkassen im Tresor und schließen als letztes den Laden von hinten. Der rückwärtige Teil, in dem wir uns jetzt befinden, reicht ins Nachbargrundstück, also in entgegengesetzte Richtung zum Parkplatz. Wenn Sie auf die Straße zurückkehren, können Sie hinter der Nummer 26 eine Toreinfahrt finden, von da fahren die Anlieferer an unsere Laderampe am Hintereingang. Den benutzen wir auch nach Feierabend und gehen gewissermaßen durch das Nachbarobjekt auf die Straße. Ich wohne im Fichtenweg. Ich komme weder am Kunden-Durchgang in der 24 vorbei, noch am Parkplatz vor unserem Laden.
Und ich habe im Nachbarhof, in der 26 mein Fahrrad angeschlossen, erklärte die Verkäuferin. Erstens steht es dort sicherer, zweitens habe ich es schneller zur Hand, wenn wir hier dicht gemacht haben.
Und auf der Straße nichts bemerkt? Die Kriminalkommissarin stellte sich den üppigen Leib auf den Fahrrad vor. Sie konnte nicht anders, es war ihr Kopf, der Wörter und Eindrücke in Bilder verwandelte. Mit langjährigen Übungen in Selbstdisziplin gelang es ihr, ein Lächeln zu unterdrücken. Die Verkäuferin zuckte mit den Schulter und zog einen Flunsch. Gitta Jagoda fragte nach. Im Sommer, abends halb elf! Möglich, dass um diese Zeit im nördlichen Hecht die Bürgersteige hochgeklappt werden, aber nicht hier. Diese Straße ist eine beliebte Nord-Südverbindung, hat kleine Kneipen, Restaurants.
Die Antwort war ehrlich, aber unergiebig.
Montagabend ist nicht viel los. In den Kneipen, auch im Leonhardo wird kaum Umsatz gemacht. Im Vorbeiradeln habe ich einige Passanten gesehen. Sie kamen von der Haltestelle am Bischofsplatz. Ich bog dann rechts in die Reuter-Straße ab. Da achte ich nur noch aufs Pflaster und den Verkehr.
Die Dicke schien nun zu bedauern, dass sie nichts Wichtigeres zu sagen hatte. Soll ich mal herumfragen, ob jemand den Nachnamen von Eva kennt?
Gitta Jagoda lächelte erleichtert. Wir sind mit Sicherheit schneller. Wir finden sie. Bei Mordermittlungen bitten wir Zeugen, unsere Gespräche vertraulich zu behandeln. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei den Kundenanfragen zurückhalten würden. Sie verstehen? Morgen nach der Pressemeldung sollen uns nur diejenigen anrufen, die wirklich etwas wissen.
Kriminalkommissarin Jagoda war auf dem Weg zu ihrem Wagen, als das Handy schnurrte. Was ist los? Ich warte seit fünfzehn Minuten.
Dr. Katz und Gitta Jagoda trennten ein Altersunterschied von sechs Jahren und einer Promotion in forensischer Pathologie, was beide nicht hinderte, auch mal ein privates Wort zu wechseln. Die Pathologin besaß mehr Erfahrungen, was sie nie gegen die Jüngere ausspielte.
Gitta Jagoda konnte sich nicht erinnern, mit Jana Katz verabredet zu sein. Was sie auch sagte.
Jaro hat mich informiert, dass du für den Fall zuständig bist. Bist du oder bist du nicht? Dr. Katz klang verärgert. Ich komme, versprach Gitta Jagoda.
So eindeutig war das nicht gewesen. Ihr Gruppenleiter hatte sie früh nach sieben angerufen und gesagt, sie solle zu einem Tatort in die Leonhardstraße fahren. Er wäre vorübergehend verhindert, aber der Praktikant und ein Dienstwagen stünden zu ihrer Verfügung. Kein Wort über Brauhaus. Dass er nicht erschien, machte Gitta kein Kopfzerbrechen.
Aber der Buschfunk im Präsidium funktionierte reibungslos. Er erreichte Nicole auf dem Gang im zweiten Stock, noch ehe die Freundin vom Tatort zurückkehrte. Kurz darauf gratulierte sie Gitta zum ersten eigenverantwortlichen Fall.
Wer hat das zu wem getragen? Ihr Partner, der Gruppenleiter, der Rat der Götter? Zu ihr kein Wort. Informationslücke, dachte sie. Wer auch immer, sie war diesmal dran, in der Pathologie den Platz des Gruppenleiters einzunehmen.

5

Unbekannte Leiche einer etwa Fünfzehnjährigen, getötet mit zwei Messerstichen zwischen Oberbauch und Brustbereich. Mangelhafter Ernährungszustand, aber organisch gesund. Keine Verwahrlosungen erkennbar. Toxikologische Untersuchung noch nicht angeordnet, wird auf Ersuchen der Ermittlungsbehörde nachgeholt.

Im Grunde übernahm Hauptkommissar Handel alle unangenehmen Aufgaben in den Fällen der Mord 2. Bis gestern. Zum Beispiel gelang es Felix Brauhaus und Gitta Jagoda, bis auf wenige Ausnahmen, sich vor den Obduktionen zu drücken. Terminabsprachen zwischen Dr. Katz und Jaro Handel hatten sie ignoriert. Das Obduktionsergebnis erreichte sie über Mails, Hauspost und Fotografien. Es mussten schon besondere Anlässe sein, wenn sie zu dritt in der Pathologie erschienen.
Kriminalkommissarin Jagoda brauchte im Nachmittagsverkehr bis zum Haus 13 der Universitätsklinik länger als gehofft. Zeit genug, sich eine gute Entschuldigung auszudenken. Jana Katz wollte sie gar nicht hören. Nein, sie war nicht verärgert. Sie erwartete Gitta Jagoda im Großen Obduktionsraum, hatte sich schon einem anderen Fall zugewendet und unterbrach diese Arbeit. Sie zog sich ihre Latex-Handschuhe aus, warf sie in den verchromten Abfallbehälter, nahm Gitta vorsichtig am Ellbogen, führte sie in den Nachbarraum zu einem der hinteren Tische. Erst hier zog sie ihre weiße Kappe vom Kopf. Das gebleichte Strubbelhaar stand sofort in alle Richtungen ab.
Jana Katz wendete den Blick zu ihrer Begleitung und lächelte. Mach dich locker, Gitta. Wann warst du das letzte Mal hier? Verspannt hast du keine objektive Wahrnehmung.
Als könnte sie den nächsten Augenblick damit verhindern, redete Gitta Jagoda ausführlich vom letzten Mal in diesen Räumen, als ein Brandopfer aus einem Prohliser Hochhaus obduziert wurde.
Ich erinnere mich. Auch für uns war das eine ungewöhnliche Aufgabe, aber nicht besonders aufreibend. Mir fällt es leichter, total entstellte Körper zu untersuchen als die kaum versehrten. Der Tod erscheint dann glaubhafter. Körper wie dieser hier sind noch so nahe an unserem eigenen Leben.
Sie zog vorsichtig das Tuch von der Kleinen. Sie referierte, als gehöre Gitta Jagoda zu den Studenten der Pathologin.
Unbekannte Leiche einer etwa Fünfzehnjährigen, getötet mit zwei Messerstichen zwischen Oberbauch und Brustbereich, vermutlich ein sogenanntes Butterfly. Mangelhafter Ernährungszustand, aber organisch gesund. Keine Verwahrlosungen erkennbar. Toxikologische Untersuchung noch nicht angeordnet, wird auf Ersuchen der Ermittlungsbehörde nachgeholt. Besonderheit: Innere und äußere Anzeichen einer Vergewaltigung, die etwa fünf bis sechs Tage zurück liegt. Frische Hämatome. Schnittverletzungen, das heißt alte und neue Abwehrspuren an den Händen. Unter den Fingernägeln Hautpartikel. Diese und der Abstrich der Scheide wurden zwecks DNA-Test eines potenziellen Täters an das forensische Labor weitergereicht. Meinen vorläufigen Bericht habe ich bereits ins Präsidium geschickt.

Gitta Jagoda fragte sich, wie man neben diesem nackten, aufgeschnittenen, wie ein Huhn wieder zugenähten Mädchen eine unverspannte Wahrnehmung zustande bringen soll. Vor Ärger wurde ihr übel. Janas verkopftes Gequatsche war doch nichts als ein Panzer gegen das, was vor ihnen lag: Ein zweimal grauenvoll misshandelter Teenager.
Gitta schwieg. Eine halbe Minute. Noch eine. Bis sie sich eingestand, dass der Ärger sich an die Falsche richtete.
Zwei Messerstiche sind keine Übertötung, hörte sie ihre eigene Stimme. Was sagst du?
Der erste Stoß sollte vielleicht ins Herz gehen, prallte aber am Rippenbogen ab, gab Jana Katz zurück. Der Mörder stach noch einmal zu. Die Hofecke war nachts schlecht beleuchtet. Oder der Täter wurde gestört.
Sie bedeckte den kleinen Körper wieder mit dem Tuch, ließ nicht einmal das Gesicht frei. Bis zur Identifizierung bleibt sie bei mir. Ich hoffe, ihr findet Angehörige.
Gitta Jagoda starrte Jana Katz entgeistert an. Ich hoffe, ich finde den Täter.
Die Ärztin nickte. Das auch. Aber zu irgend jemandem wird sie gehören. Der macht sich Sorgen, vermisst sie. Wartet, wünscht sich, dass ihr nichts passiert ist.
Gitta Jagoda atmete durch. Und dann kommen wir mit der Nachricht, dass das Mädchen vergewaltigt und Tage später mit mehreren Messerstichen getötet wurde. Sie hatte die Luft angehalten, um nicht mit ihrer Wut auf andere loszugehen.
Jetzt haben wir zwei Delikte, nicht notwendigerweise zwei Täter. Das wird mir zu viel. Ich brauche meine Jungs. Unser Praktikant ist nicht erfahren genug.
Die Pathologin wollte weiterarbeiten, zog die Kriminalistin mit sich in den Nebenraum.
In ein paar Minuten kommen meine Studenten. Ich bin mit der Vorbereitung noch nicht fertig. Falls du mich brauchst, Gitta, können wir heute Abend oder morgen früh miteinander telefonieren.
Gitta Jagoda nickte. Dann fiel ihr ein, dass sie sich bedanken sollte. Jana Katz lächelte wieder. Die Fältchen in den Augenwinkeln blieben zurück, als ihre Miene konzentriert auf die Leiche blickte, die den Studenten beibringen sollte, wie man sich dem Tod nähert.

Nur wegen Dr. Katz und ihrer Email war die Kriminalkommissarin auf direktem Weg in die Schießgasse gefahren. Der schwerfällige Altbau aus dem Jahre 1900 ließ trotz aller Modernisierungsversuche wenig Licht in die Räume. Die Sandsteinmauern waren so dick, dass sie im Winter Kälte, im Sommer Hitze fernhielten. Gitta erschauerte, als sie das gemeinsame Zimmer betrat. Felix hatte die Fenster geschlossen gehalten. Das ergaben gefühlte zehn Grad Unterschied zwischen drinnen und draußen.
Jaro wollte mit dir reden, begrüßte Fix Brauhaus seine Partnerin. Beeil dich. Wir treffen uns in ein paar Minuten mit der SOKO Krobatsch im Raum 200. Sei froh, dass du jetzt deinen eigenen Fall hast.
Weil er nach dem Rauchen nicht gelüftet hatte, blieb Gitta nichts anderes übrig, als selber die Fenster aufzureißen, um den grantigen Geruch seiner F6 zu vertreiben. Die Sonne knallte ihr ins Gesicht. Hitze oder dicke Luft, sie entschied sich für ersteres. Felix packte eben seine Tasche und hing sich den Riemen über.
Ich komme nicht mehr zurück. Du bist dann die Letzte auf der Etage. Mach Feierabend. Du verpasst heute nichts mehr.

Grüß Heike, antwortete Gitta, ohne auf seinen gut gemeinten Ratschlag einzugehen. Dann öffnete sie die Mailbox, las und druckte den vorläufigen Obduktionsbericht von Dr. Katz. Das fremde Mädchen war eine namenlose Nummer geworden, war ein vergewaltigtes und abgestochenes Objekt. Gitta schloss die Augen, um sich an die kleine Leiche zu erinnern. Das machte nichts besser. Raus hier. Felix wusste, was richtig war. Vielleicht hatte sie morgen den nötigen Abstand, um klare Gedanken zu fassen.

6

An diesem Sommerabend atmeten sie die liebevolle Nähe der anderen. Sie genossen den Pinot Noir und ihre gemeinsamen Erinnerungen. Auf der Zunge zergehen lassen, bis nichts mehr übrig ist. Sie lachten darüber und redeten sich müde.

Louise Baum wickelte sich eben einen Frotteeturban um den Kopf, als sie ihrer Nichte öffnete. Nach einer Stunde am Herd musste ich unter die Dusche. Kühler ist mir auch nicht geworden.
Tante Lou, die sich im Alltag zwanghaft seriös kleidete, hatte eine dünne Pyamahose angezogen und sich ein samtblaues Shirt übergestreift. So nahe Gitta und sie miteinander waren, Louise zeigte sich nie in ihrer Blöße. Gitta fand die Zurückhaltung in Ordnung. Sie respektierte ihre Ersatzmutter und nächste Verwandte, hielt sie im stillen aber für prüde.
Die Tante musste damit fertig werden, dass sich Gitta nicht angemessen auf den wöchentlichen Besuch vorbereitet hatte. Ihre Karobluse zeigte Schweißflecke, die Jeans trugen Spuren vom verkrümelten Autositz, von Straßenstaub und feuchten Händen. Nicht auffällig, aber für Louises Augen eindeutig zu viel. Sie schwieg dazu. Brachte das eisgekühlte Tarator auf den Tisch und gab in die Glasschalen jeweils zwei volle Kellen.
Gitta sprang auf und verschwand ins Bad. Unzufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. Klatschte mit ihren nassen Händen ins müde Gesicht. Strich die Haare glatt. Besah sich ihre Fingernägel. Damals, als sie bei der Tante einzog, kontrollierte Louise noch die Hände, bevor sie Brot anfassen ließ. Es gab einen ernstzunehmenden Grund. Ein Jahr zuvor war mitten im bescheidenen Wohlstand eine Seuche ausgebrochen. Hepatitis mit irgendeinem Buchstaben. Die halbe Schulklasse lag im Neustädter Krankenhaus. Auch Karsten, Gittas Cousin musste die Kontrolle über sich ergehen lassen, obwohl er älter war als sie.
Tante Lou klopfte an die Tür. Alles in Ordnung, Mädchen?
Wie in alten Zeiten. Gitta lächelte sich im Spiegel aufmunternd zu und behielt die Mundwinkel oben, bis sie sich an den Tisch setzte. Die Tante hob ihr Glas.
Pinot Noir, der einzige trockene rumänische Wein bei meinem Dealer. Auf dein Wohl, Gitta. Auf diesen heißen Sommer. Gitta nahm einen Schluck, um ihren Appetit zu wecken. Danke für deine Geduld mit mir, Louise. Schafft ja sonst keiner.
Louise Baum blickte erschrocken. So schlimm? Ich meine deinen neuen Fall. Wenn dich Selbstzweifel anfallen, hat das mit der Arbeit, nicht mit Deinem Selbstbild zu tun.
Gitta seufzte. Du kennst mich besser als ich mich. Lassen wir den Fall draußen. Ich merke erst jetzt, dass ich seit Tagen nichts Vernünftiges gegessen habe.
Das Tarator kühlte Schale, Löffel und Magen. Louise Baum hatte es mit original türkischem Yoghourti angesetzt, die Gurken kamen aus dem Bioladen, der sich von einem Hof hinter Radebeul beliefern ließ. Den Knoblauch hatte Louise von ihrem Redaktionsleiter bekommen, der einen Schrebergarten an der Elbe besaß. Eine Spur zu viel Elbe, aber der Appetit wuchs ins Unbeschreibbare. Gitta fiel über Maisbrot, Gjuwetsch und Mizzis her, als hätte sie eine Woche lang hungern müssen. Erst beim Nachtisch unterhielten sie sich wieder. Zuckermelone mit Eierlikör und fetter, ungesüßter Sahne. Weißt du noch? Damals, als wir zu viert in Mamaia unsere ersten gemeinsamen Ferien verbrachten? Wir alle vertrugen die Melone nicht und saßen eine Nacht lang abwechselnd auf dem Klo.

Im Sommer 89 hatten die Schwestern Louise und Marlene vierzehn Tage am Schwarzen Meer, im Hotel Lumina gebucht. Während sich tausende Ostdeutsche einen Fluchtweg in den Süden suchten, um im Westen zu landen, brauchten die Schwestern in ihrem Leben keine weiteren Abenteuer. Die Reise ans Schwarze Meer war ihr Fluchtversuch aus dem Alltag, mehr nicht. Er verschlang alle Ersparnisse. Zwölf Stunden waren die Schwestern mit ihren Kindern Karsten und Gitta auf den Schienen unterwegs. Ohne Männer. Marlene schon vor Jahren geschieden, Louise seit einigen Monaten verwitwet. Louise musste sich aus ihrer Depression heraus graben, Marlene war völlig überdreht, weil schwanger. Keine ungetrübte Freude. Gittas Mutter hatte einen Fliegeroffizier kennengelernt, dem sie um jeden Preis nach Straußberg folgen wollte. Die Dienstwohnung besaß nur zwei Zimmer. Erst nach der Heirat stand ihm mehr zu.
Wie sollte sie ihrer Tochter Umzug und Hochzeit beibringen? Könnte Louise vielleicht vermitteln? Einmal große Schwester, immer große Schwester. Louise riet zu kleinen Schritten. Wir machen das gemeinsam. Erst mal reden wir von einem Umzug und hören, was sich Gitta dabei denkt.

Das Kind dachte nicht lange, es protestierte sofort. Louise versuchte zu vermitteln. Die Neunjährige durchschaute das Weiber-Manöver. Sie beschuldigte ihre Mutter, die unangenehmen Sachen immer von anderen erledigen zu lassen. Marlene war Lehrerin. Sie glaubte zu wissen, was Pubertät bedeutet und wie viele Spielarten es geben kann. Louise lachte ihre Schwester aus. Gitta ist gerade mal neun. Du konstruierst dir selbst ein Problem und nennst es dann: meine Tochter in der Pubertät. Auch wir, Karsten und ich sind Gittas Familie. Hannes hat sie wie eine Tochter geliebt. Er war jahrelang die einzige männliche Bezugsperson. Gitta mochte ihn mehr als die Geburtstagspäckchen von ihrem Vater. Ihr Onkel Hannes ist tot. Sie vermisst ihn wie wir. Soll sie jetzt noch auf uns verzichten, weil du andere Pläne hast?
Gitta nutzte die Gunst der Tante schamlos. Du zwingst mich, die Schule zu wechseln, Mama, und mit einem fremden Menschen zusammenzuwohnen. Ich will bei Louise und Karsten bleiben. Und ich will meine Schulfreundinnen behalten. Mehr will ich nicht.
Marlene war die in der Pubertät. Oder waren es die Schwangerschaftshormone? Sie beachtete ihre Tochter nicht, sondern beschuldigte nun Louise, eifersüchtig zu sein, weil ihre jüngere Schwester noch einmal schwanger war, noch einmal einen Mann gefunden hatte, der sie heiraten würde.
Der Urlaub ist versaut, meckerte Karsten, genervt von dem Weiberdrama. Wir wollten Palmen am Strand und Meer und südliche Sonne. Jetzt haben wir das alles und ihr kommt mit ungelegten Eiern. Hat das nicht Zeit, bis wir wieder zu Hause sind?
Da musste die große Schwester die Karten der kleinen aufdecken. Deine Tante Marlene bekommt ein Kind. Soviel zu ungelegten Eiern.
Schweigen in der Strandburg. Die Urlaubsgeräusche der anderen Touristen, die Möwen und der Wellensound machten es nicht besser.
Gitta fand das erste Wort. Bitte. Ich möchte bei euch bleiben, Tante Lou. Ich nehme die Besenkammer. Da passt mein Bett rein. Ich habe nicht so viele Sachen. Mama kann ich in den Ferien besuchen.

Von da an schlief Louise jahrelang in der Wohnstube auf dem Sofa, damit Gitta bei ihr wohnen konnte, ohne die Besenkammer zu räumen oder mit ihrem älteren Cousin das Zimmer teilen zu müssen. Beides war nie ein Thema. Richtig unangenehm wurde es für Louise erst, als ihre Pflegetochter mit einer Studienfreundin auf der anderen Elbseite eine WG gründete und Karsten nach dem Informatik-Studium einen Job in den Staaten annahm. Sie nannte es ihre zweite große Depression, aber sie hatte schon Erfahrungen mit tiefen Tälern und ihren dunklen Wegen.
Louise Baum rettete sich diesmal ohne Meer und Palmen, indem sie die 3-Raum-Wohnung umräumte, mit Gittas Hilfe alle Zimmer renovierte und ihre Pflegetochter für jeden Dienstagabend zum gemeinsamen Essen verpflichtete. Was beiden gewisse Vorteile brachte.
Auch an diesem Sommerabend atmeten sie die liebevolle Nähe der anderen. Sie genossen den Pinot Noir und ihre gemeinsamen Erinnerungen. Auf der Zunge zergehen lassen, bis nichts mehr übrig ist. Sie lachten darüber und redeten sich müde. Zufrieden fuhr Gitta nach Hause. Manchmal genügte es, beieinander zu sein, von vergangenen Zeiten zu reden, keine Fragen zu stellen. Nicht ans Gestern oder Heute, nicht an Morgen.

7

Ich habe noch eine Information. Ein Mitarbeiter des Ausländerrates hat sich bei Elvira zur Pressenotiz gemeldet. Er übersetzt stundenweise im Erstaufnahmelager und hat das Mädchen am vergangenen Mittwoch gesehen.

Die Presseleute hatten die Meldung jeweils auf ihrer Lokalseite untergebracht. Das Bild in Schwarz-Weiß ließ das tote Mädchen älter erscheinen, die Angaben zur Kleidung und zu dem, was sie bei sich hatte, waren detailliert wiedergegeben. Geblümtes Kleid, dunkelgrüne Baumwollhose, schwarze Stoffschuhe, hellbraune Strickjacke, graue Wollmütze. Durchsichtiger Einkaufsbeutel mit Tomaten, Käse und Fladenbrot. Ein Kinderportemonnaie, innenseitig mit Faserstift beschriftet. EMMA.
Gitta nahm zufrieden zur Kenntnis, dass die Pressesprecherin des Hauses auf ihrer Seite war. Nichts gekürzt oder sprachlich verändert.

Die Telefonzentrale stellte den ersten brauchbaren Anruf durch, als Jaro Handel in seinem Zimmer mit Brauhaus, Jagoda und Brambacher die neuesten Ergebnisse im Fall Krobatsch besprach. Gitta nahm im Vorbeigehen aus Elviras Drucker ein leeres Blatt und zog sich auf den Flur zurück, um die anderen nicht zu stören. An einem der Fenster zum Innenhof blieb sie stehen, lauscht der Stimme und notierte, was nötig war. Als sie das Gespräch beendete, hatte sie das Papier mit ihrer großen Schrift fast gefüllt.
Inzwischen war ein weiterer Anruf bei Elvira gelandet. Erstaunlicherweise protestierte sie diesmal nicht wie üblich, weil sie für den Kriminalrat und die zwei Hauptkommissare zu viel zu tun hätte. Sie saß in ihrem lindgrünen Georgetteblüschen an ihrem Fensterplatz und tippte, als Gitta Jagoda zurückkehrte. Elvira stoppte, um sich nach Gitta umzudrehen.
Ich habe dir aufgeschrieben, was der Mensch gesagt hat. Er war mit seinem Akzent schwer zu verstehen. Hoffentlich findest du den Drecksack, der Kinder absticht.
Gitta nahm Elviras Notiz, dankte nachdrücklich und öffnete die Tür zu Jaros Zimmer. Er hatte ihr das tote Mädchen überlassen, er musste nun ohne sie auskommen. Aber sie kam nicht ohne ihn aus.
Zugegeben: Der Fall Krobatsch war mehrere Nummern größer als ihrer. Der Mordversuch an dem Unternehmer und Landtagsabgeordneten gehörte zu den Verbrechen, die am Ende einer Kettenreaktion standen. Die Mord 2 war zu einem angeblichen Suizid gerufen worden. Hätte sich dieser Verdacht bestätigt, wäre von Krobatschs Partei und der Familie eine gleichgeschaltete Traueranzeige schnell zu den Akten gelegt worden. Der Mann überlebte die Strangulation. Erste Indizien zum Mordverdacht wendeten das Blatt. Hauptkommissar Handels Gruppe wurde durch weitere Ermittler und das Dezernat 3 aufgestockt, die SOKO Krobatsch entstand. Einmal auf der Spur der Killer, deckten die Kriminalisten weitere verdächtige Ereignisse auf.
Ein Verkehrsunfall vor einem Monat, der nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte, ein Mitarbeiter einer Konkurrenzfirma, der seinen Chef wegen Nötigung zu unlauteren Geschäftsgebaren angezeigt hatte. Damit war die Sievert AG ins Licht der Ermittlungen geraten. Kriminalrat Hohenkampf verlangte von Hauptkommissar Handel tägliche Berichterstattung, im Notfall Sofortkontakt. Jaro Handel und die SOKO Krobatsch erhielten jede Unterstützung aus dem Haus, die sie brauchten.
Gitta Jagoda hielt sich zurück, bis die Aufgaben für den Tag aufgelistet und zugeordnet waren. Fix und Jaro wollten die noch ausstehenden Informationen ihrer Kontaktpersonen einholen, um die Beratung der SOKO mit den Dezernatsleitern und den Staatsanwälten vorzubereiten. Während Polizeianwärter Brambacher Untersuchungsergebnisse kopieren sollte, hatte der Gruppenleiter Kommissarin Jagoda verschont.
Was gibt es Neues zu deinem Fall im Hechtviertel? Wie nennen wir ihn?

Gitta blickte kurz über ihre Notizen. Wir haben seit zehn Minuten einen Vornamen, vorausgesetzt, dass es der richtige ist. Basima. Auf Elviras Leitung hat sich eine Laura Liebstadt gemeldet, Leiterin des Frauenkulturzentrums am Schwedenplatz. Basima war von ihrer Familie getrennt worden und brauchte eine geschützte Unterkunft. Eine Krankenschwester, die ehrenamtlich im Erstaufnahmelager arbeitet, brachte sie in dieses Frauenzentrum. Das Mädchen hat tagsüber im Garten geholfen und im Gästezimmer geschlafen.
Weil der Raum für eine Seminarleiterin aus Hamburg benötigt wurde, nahm eine Mitarbeiterin Basima am Freitag gegen 15 Uhr mit nach Hause. Ihr Name: Eva Möckel. Von einer Eva sprach auch die Verkäuferin im Supermarkt. Damit verifiziert sie die Aussage von Laura Liebstadt und umgekehrt. Eva Möckel soll von Montag bis Donnerstag in der Freien Heide-Schule anzutreffen sein. Neben ihrer Lehrertätigkeit leitet sie jeden Freitag einen Tanzkurs im Zentrum. Ihre Adresse steht angeblich im Telefonbuch.
Der Name der Krankenschwester, die Basima zu den Frauen brachte, ist Tilda. Mehr wusste Laura Liebstadt nicht. Die Frauen im Zentrum arbeiten, bis auf vier fest finanzierte, alle ehrenamtlich. Ich muss also zu Frau Liebstadt fahren, danach diese Eva Möckel auftreiben und die Familie des Mädchens finden.
Felix Brauhaus hatte seine Meinung für sich behalten. Nun verlor er die Geduld. Das entsprach viel eher seiner Natur.
Typisch für alternativen Projekte, die von Frauen geleitet werden. Da lässt man eine 15jährge im Haus übernachten und fragt nicht nach Namen und Herkunft oder sucht nach der Familie. So viel Gefühllosigkeit ist mir noch nicht passiert.
Jaro Handel wusste es besser. In Frauenvereinen ist es üblich, nicht viel nachzufragen, wenn jemand Schutz braucht. Wer über sich reden will, redet, wer nicht, wird auch akzeptiert.
Gitta mochte es gar nicht, dieses respektlose Gerede, das mit dem Tod des Mädchens nichts zu tun hatte. Die Männer interessierten sich nicht für Basima. Schlimmer noch: Der Praktikant zeigte die gleiche Ignoranz. Er nuckelte an seiner Wasserflasche, um nichts Falsches zu sagen. Sie machte sich Luft.

Was soll uns das nützen, über die Liebstadt oder andere Frauen zu urteilen? Das Mädchen war auf der Flucht. Es hätte mehr Wärme, mehr Entgegenkommen verdient. Vielleicht wäre es Laura Liebstadts Sache gewesen, sich mit ihm zu unterhalten, nach seiner Herkunft und Familie zu fragen. Vielleicht gab es Gründe, dass sie es nicht getan hat. Wenn ich sie gefragt habe, kann ich mir immer noch ein Bild machen. Wir wissen nur, Frau Liebstadt hat dieser Krankenschwester den Schlüssel für die Gästewohnung in die Hand gegeben und sie beauftragt, Lebensmittel zu besorgen. Ich muss Tilda finden. Niemand hat ihr bisher zugehört, wie sie darauf kam, Basima aus den Lager zu lotsen. Was mich ärgert, ist, dass sich Laura Liebstadt nicht auf unser Gespräch vorbereitet hat. Zwischen dem Lesen der Pressemeldung, ihrem Anruf bei Elvira und meinem Rückruf blieb Zeit genug. Sie kannte nur den Vornamen von Tilda, obwohl die Krankenschwester einige Male an der Sommerakademie teilgenommen haben soll. Für diese Sommerakademie muss es Listen geben, Namen und Adressen, Telefonnummern und so weiter. Ich habe die Daten angefordert und bin für morgen mit der Liebstadt verabredet. Erst morgen, weil die vielbeschäftigte Frau heute ab zehn Uhr im Rathaus ein Ganztagsseminar mit Gleichstellungsbeauftragten leitet. Drückt mir die Daumen, dass auch für die ehrenamtlichen Helfer im Lager Listen existieren, damit ich darunter meine Tilda finde. Vielleicht weiß sie über die Vergewaltigung Bescheid und hat sich deshalb um Basima gekümmert.
Was sagst du da? Jaro hatte noch keine Zeit gehabt, den vorläufigen Obduktionsbericht zu lesen. Gitta musste sich überwinden. Vor ihr saßen drei kerngesunde Kerle, die sich mit einem komplizierten Verbrechen an einem nicht ganz sauberen, stadtbekannten Unternehmer und Landtagsabgeordneten beschäftigten. Das tote Mädchen hielten sie für einen simplen Fall. Und der Praktikant schwieg so oder so. Gitta konnte sich nicht erinnern, dass sie ihren Partnern irgendwann mal so misstraut hätte. Sie ließ weder Jaro noch Felix zu Wort kommen.
Basima wurde vergewaltigt und Tage später umgebracht. Ich lese alle Dokumente zu eurem Fall. Warum informiert ihr euch nicht über meinen? Von der Familie getrennt, missbraucht und erstochen. Ob ihr Tod eine Folge des ersten Verbrechens war, kann der Obduktionsbericht nicht erklären. Das ist unsere Sache. Ahnt ihr jetzt, welche Kreise das zieht? Ein Täter oder mehrere, zwei Tatorte und mehrere Zwischenstationen. Nicht zu denken, wie viele Personen als Zeugen, als Verdächtige in Frage kommen. Allein im Erstaufnahmelager sollen derzeit etwa 900 Flüchtlinge leben. Wenn ihr mir nicht endlich Unterstützung gebt, seid ihr für mich erledigt. Als Männer und Kollegen.
Die drei schwiegen. Gitta hörte ihrem letzten Satz hinterher und fragte sich, was sie damit gemeint haben könnte. Felix griff in seine Brusttasche und zog die Zigarettenschachtel raus. Steckte sie wieder zurück. Wollte das Zimmer nicht verlassen. Johannes Brambacher war jung genug zu sagen: Ich würde dir ja gerne helfen, weiß aber nicht, wie.
Gitta seufzte. Johannes, nimms mir nicht krumm, aber dir fehlt die Erfahrung.
Jaro brauchte wie immer seine Minute zu überlegen, welche Entscheidung er treffen sollte. Ich rede mit Hohenkampf, dass er dir Johannes offiziell zuteilt, mit konkreten Befugnissen ausstattet und Elvira für dich einige Aufgaben übernimmt. Wenn die Vergewaltigung im EAL passiert sein sollte, das Kind von seiner Familie getrennt wurde, dann auf illegalem Weg aus dem Lager kam, hat das eine andere Dimension als ich dachte. Es tut mir leid, dass ich dir bisher alles allein überließ. Lege ein Dossier mit einer Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse an! Ich versuche bis zum Nachmittag, den Kriminalrat und Von Arnim zu sprechen. Du weißt, wie wichtig dem Staatsanwalt und unserem Chef Papiere sind. Alte Schule, aber auch gut. Schaffst du das?
Ich habe noch eine Information. Während ich mit Frau Liebstadt sprach, hat sich bei Elvira ein Mitarbeiter des Ausländerrates zu unserer Pressenotiz gemeldet. Er übersetzt stundenweise im Erstaufnahmelager und hat das Mädchen am vergangenen Mittwoch gesehen. Er sprach von einer Basima Mawardi. Ich würde ihn gern sofort anhören und das Ergebnis in den Bericht an Hohenkampf einfügen.
Dann los mit dir. Johannes fährt. Jaro Handel machte Felix Brauhaus ein Zeichen. Und du, Fix, geh endlich eine rauchen. Du machst mich nervös.
Er wunderte sich, dass seine Mitarbeiter sich über ihn amüsierten. Handel hatte keinen Witz erzählen wollen. Er sah einfach nie aus, als könne er nervös werden.
Er begleitete Gitta Jagoda ins Vorzimmer und forderte sie auf, zu jeder Zeit bei ihm anzurufen, wenn sie ihn brauchte. Vorausgesetzt, sagte er mit Nachdruck, dein Dossier liegt mir bis Mittag vor.
Gitta wurde nicht schlau aus ihm. Jaro hatte sich seit dem Frühjahr verändert. Damals schien es ihr, als wäre er an ihr interessiert. Als hätte er sie lieb gewonnen. Aber vielleicht hatte sie seine Zuneigung überbewertet. Oder irgendwas falsch gemacht. Sie machte öfter was falsch.

8

Die Deutschen sind leicht zu berechnen. Ich meine, die Beamten. Seine Miene hatte sich aufgehellt. Als er sich setzte, war er nur noch ein älterer Mensch mit besorgten braunen Augen. Sie kommen wegen Basima. Warum wird sie gesucht?

Kriminalkommissarin Jagoda lief dem Polizeianwärter immer ein paar Schritte voraus, beeilte sich, zuerst in den Dienstwagen zu kommen. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein. Der Gruppenleiter hatte gesagt: Johannes fährt dich. Also hielt sie sich dran.
Sie entschuldigte sich bei ihm, als sie die Baustelle am Sachsenplatz erreichten. Sie hätte ihn warnen sollen oder eine Route anweisen, die das Nadelöhr umging. Der Junge kam aus Bautzen. Er konnte nicht wissen, wie sich diese Dresdner Baustellen in die Länge zogen. Zeitlich wie örtlich gesehen. Noch bevor sie das Stadion erreichten, bemerkten sie das Gedränge an den Eingängen. Weniger heftig als an anderen Spieltagen. Heute Vormittag tritt die A-Jugend an, kommentierte Brambacher die Menge. Ferienzeit, da kommen eher Familie und Freunde als hardcore Fans.
Gitta Jagoda wunderte sich. Der Junge hatte ganz normale Interessen, mal abgesehen von seinem natürlichen Sprudelwasser in der Frosch-Flasche, den Veggi-Burgern und seinem Kurzhaarschnitt. Dem hatte er inzwischen zehn Millimeter Wachstum zugestanden. Er meinte, als er sich noch regelmäßig geschoren hatte, wäre er mal als rechte Bullen-Sau beschimpft worden. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen.
Johannes fuhr schnell und sicher, er quasselte nicht wie Felix Brauhaus und trug keine Schlangenlederboots wie Jaro Handel. Schon wieder waren ihre Gedanken bei Jaro gelandet. Das musste aufhören. Gitta konzentrierte sich auf das bevorstehende Gespräch. Dann begann es ganz anders als erwartet.
Kriminalpolizei. Brambacher und Jagoda, stellte sie sich vor. Der große, schwere Mann an der Haustür nickte. Moussa Maghed, Übersetzer und Autor. Wir halten seit einiger Zeit den Eingang verschlossen, wir lassen klingeln. Vor der ersten Flüchtlingswelle gab es aller paar Jahre mal einen Übergriff auf unser Haus. Seit den letzten Vorfällen in der Stadt fühlen wir uns nicht mehr sicher. Kommen Sie bitte, ich habe Kaffee zubereitet.
Was hatte Elvira über seinen Akzent gesagt? Der Übersetzer war trotz der harten Konsonanten und Kehllaute problemlos zu verstehen. Muss wohl an der Aufregung gelegen haben. Gitta und Johannes folgten dem korpulenten Mann im braunen Anzug. Seine leicht gekräuselten, rabenschwarzen Kopfhaare lichteten sich bereits, was man nur sah, wenn man hinter ihm lief. Er hatte sich in einem Gruppenraum eine Ecke erobert und drei Stühle um einen niedrigen Intarsientisch gruppiert.
Gitta fühlte sich fremd zwischen den exotischen Wandteppichen und Regalen, dem blitzblankem Messinggeschirr auf dem Fensterbrett, den Büchern, deren Titel sie nicht entziffern konnte und dem Tisch, der eben so an ihre Knie reichte. Dieser Raum war nicht von Deutschen und auch nicht für Deutsche eingerichtet worden.
Sie kommen immer zu zweit, lächelte Maghed. Die Deutschen sind leicht zu berechnen. Ich meine, die Beamten. Seine Miene hatte sich aufgehellt. Als er sich setzte, war er nur noch ein älterer Mensch mit besorgten braunen Augen. Sie kommen wegen Basima. Warum wird sie gesucht?
Ehe er redete, wollte er wissen, weshalb sich die Polizei für ein Flüchtlingsmädchen interessiert. Auch er und der Ausländerrat hatten Regeln. Johannes Brambacher beging den Fehler zu entgegnen, dass die Polizei die Fragen stellt und Bürger die Antworten geben. Hätte noch gefehlt, er würde den Pass des Mannes verlangen.
Ich habe Sie angerufen, nicht umgekehrt. Herr Maghed verschloss sich. Er hob seine Tasse, ohne die Gäste zum Trinken aufzufordern.
Gitta kostete. Respekt. Ein doppelter Mocca double.
Kein Zucker? fragte Herr Maghed und schob die Schale mit den Würfelchen näher.
Danke, ist etwas ungewohnt hier. Unsere Kantine braut nicht so stark. Ihr Kaffee schmeckt nicht nur besser sondern anders als unserer.
Man sollte ihn mit Zucker trinken. Ich male die äthiopischen Bohnen selber und brühe das Pulver im Tumaka. Heute habe ich eine Prise Zimt hineingegeben. Kardamom ist für viele Deutsche zu heftig. Zimt erinnert sie an Weihnachten. Ich hätte auch Shai anbieten können, aber den Tee mit Minze halten die meisten hier für eine billige Alternative.
Danke vielmals. Ihr Rezept weckt die Lebensgeister. So sagt meine Tante gern. Sie ist eine Kaffee-Spezialistin.
Herrn Magheds Miene hellte sich wieder auf. Ich liebe Ihre Sprache. Lebensgeister. Was für ein optimistisches Wort!
Ihr Deutsch ist tadellos. Sind Sie schon lange im Land? Gitta spürte neben sich, wie Brambacher auf dem Stuhl-Kissen hin und her rutschte. Sie entschleunigte auch seinetwegen das Gespräch.
Ich habe an der Technischen Universität Wasserwirtschaft studiert, meine Frau Saida kam nach und begann eine Ausbildung als OP-Schwester. Dann sind wir geblieben. Mehr Privates gab Moussa Maghed nicht preis.
Gitta hatte genug Konversation gemacht. Kommen wir zum Grund Ihres Anrufs, Herr Maghed. Erklären Sie uns bitte Ihre Beziehung zu Basima.
Maghed folgte ihr ohne Widerstand. Er berichtete, dass er schon länger als gerichtlich bestellter Übersetzer tätig war, das hieß: nicht nur für Verlage, auch für Notariate und Gerichte. Sein Einsatz im Erstaufnahmelager kam über seine Frau zustande. Ihr Chef hatte mit einigen Helfern eine Gruppe Ehrenamtlicher zusammengestellt, die unter den schlechten Lagerbedingungen medizinische Notfälle versorgte. Maghed konnte keine derartige Hilfe leisten, stattdessen stellte er sich zweimal in der Woche als Übersetzer zur Verfügung. Mehr ging nicht. Auch im Ausländerrat arbeitete er ohne Entgelt. In der übrigen Zeit musste er genug verdienen, um seine Familie zu ernähren. Am anstrengendsten waren für ihn die Stunden im Lager.
Ich rede, als würde ich Sie literarisch unterhalten wollen, unterbrach er seinen Redefluss. Das ist mein genetisches Programm. Orientalen schmücken gern aus. Er schaute Johannes Brambacher in Gesicht und lächelte breit. Sie müssen nicht alles glauben, was über uns gesagt wird. Er beherrschte sich nur mit Mühe. Oder, was wir über uns selber sagen.
Gitta Jagoda nahm den letzten Schluck Kaffee, ehe er abkühlte. Sie wusste, er wirkte nur brühheiß wie eine Arznei gegen die Vormittagshitze. Auch wenn sie das Hausrecht des Mannes akzeptierte, wollte sie endlich zur Sache kommen. Einverstanden. Lassen wir das Geschichten erzählen! Die Sache ist ernst. Woher kennen Sie Basima und wo und wann haben Sie sie zuletzt gesehen?
Den Namen habe ich mir gemerkt, weil eine Freundin von mir sie in persönliche Obhut nahm. Eine iranische Übersetzerin, die mehrere Sprachen beherrscht. Yara hatte sie ständig an dem Rockzipfel, wie ihr sagt. Sie stellte sie mir vor und erklärte, Basima will Sprachen studieren und übt schon fleißig.
Dann kommt das Mädchen aus dem Iran?
Das glaube ich nicht. Ihrer Aussprache nach halte ich sie für einen syrischen Flüchtling. Vor einer Woche wurde ich gebeten, bei der Zusammenstellung der Transporte zu helfen. Das verursacht viel Aufregung. Diese Menschen haben sich gerade eingelebt, da heißt es für sie, zusammenpacken, einsteigen und weiterfahren. Ich kam nach zwei, die Listen hingen schon aus, aber nicht in Arabisch oder einer anderen orientalischen Schriftsprache. Viele der Flüchtlinge können die lateinischen Buchstaben nicht lesen. Also trage ich über Lautsprecher die Namen vor und gebe die Nummern der Reisebusse und ihrer Ziele bekannt. Das muss mehrmals wiederholt werden, damit sich die richtigen Leute an den richtigen Fahrzeugen einfinden. Keine besondere Leistung für mich, aber deprimierend. Das Wachpersonal kommt zu mir, wenn die Zahl der Leute in den Bussen nicht stimmt. Dann muss ich mir einfallen lassen, wie ich die fehlenden Personen herbeirufe. Basima war so ein Fall. Ihre Familie saß schon in der Nummer 4 und wollte wieder aussteigen, weil das Mädchen fehlte. Irgendwann fuhr der Bus trotzdem ab. Ich fragte Herrn Meisel, den Wachschutzleiter noch, wo sie Basima gefunden haben. Der lachte nur und sagte: Was nicht passt, wird passend gemacht. Ich dachte, das ist ein Witz.
Kein Witz, meldete sich Brambacher. Basima ist tot und wir versuchen, ihre Familie zu finden.
Herr Maghed erstarre. Nur seine Mimik zeigte, wie schmerzhaft ihn die Nachricht traf. Wie konnte das passieren? Er schüttelte den Kopf. Sie dürfen dazu nichts sagen? Vielleicht verwechseln Sie Basima mit einem anderen Mädchen. Sie müssen ins Lager fahren und die Listen vom vergangenen Mittwoch holen. Da steht unter dem 4. Transport ihr voller Name. Mutter und drei Kinder. Soviel ich mich erinnern kann, reisten sie ohne Vater. Nummer 4 ging nach Prohlis in ein Heim für Familien und Frauen. Dort arbeitet auch Yara Rehani, die Iranerin. Sie ist als Übersetzerin mehrfach unterwegs und pendelt zwischen den Einrichtungen. Sie wird Ihnen helfen, so gut sie kann. Sie mochte Basima sehr.
Herr Maghed schob den Ärmel seines Jacketts hoch, um auf die Uhr zu blicken, ein großes schweres Ding, seinem Körpergewicht durchaus angemessen. Womit kann ich Ihnen noch dienen?