M A R I K A D I M O W
Marika, Georg und Erika leben in einem Internat für Kinder der politischen Elite. Nur einige Mitschüler respektieren sie als Gleiche unter Gleichen, dennoch verbindet die drei mehr als der Schulalltag. Marika heiratet einen jungen Bulgaren, den sie durch ihre Eltern kennenlernte. Erika reist mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Kind nach Kuba, um dort beide zu verlieren. Georg, der sich nie für eine von beiden Freundinnen entscheiden konnte, bleibt letztendlich allein. Über die Jahre trennen sie sich, um sich nach jeder Wiederbegegnung um so stärker zueinander hingezogen zu fühlen. Als Erika umgebracht wird, wachen Marika und Georg auf. Ihr Leben ist erst halb gelebt, Sie gehören zusammen. Aber nur für kurze Zeit, dann muss Marika ihren Weg allein finden.
Sieben Leben hat die Katz
L E S E P R O B E
Geständnisse
Dr. Frolland hielt seine Versprechen. Er erschien wie immer im Kittel über Pullover und Jeans, seine Fäuste in den Taschen und ein Lächeln im Blick. Ich schlage vor, wir gehen im Park spazieren. Es ist heute ungewöhnlich warm.
Als sie vor das Gebäude der Neurologie traten, eröffnete er das Gespräch mit einem Gruß von Franz Kreutzer-Klette. Er bereitete Marika behutsam darauf vor, seine wahren Absichten zu enthüllen. Marika ging zum Angriff über.
Ich weiß, Sie zogen mit Franz im vergangenen Jahr durch Kanada. Wie lange kannten Sie Schorsch, als er starb?
Er mochte es nicht, wenn ihn jemand Schorsch nannte, versuchte Frolland sie zu belehren.
Marika ließ sich nichts einreden. Sie hielt dagegen. Das durften nur wir drei, Rika, so hieß Erika Abel bei uns, Uli-Ulrike Bohrmeister und ich. Wann haben Sie Georg kennengelernt?
Marika, Sie vergessen, dass ich zu Ihnen als Therapeut komme. Ich sagte, ich schreibe nach jedem Besuch einen Fallbericht. Wenn Sie mich interviewen wollen, dann lassen Sie uns zuerst meine Fragen klären, danach nehme ich mir so viel Zeit wie Sie mögen und wir reden über Georg und mich. Wie war Ihr Verhältnis zu ihm, wann haben sich Ihre Wege getrennt?
Wahrscheinlich denken alle im Pressehaus, dass ich einen soliden Nervenzusammenbruch hatte. Wie nennt man das heute? Burnout? Es war ein Dejá vue, eine Erfahrung, die ich vor sehr langer Zeit einmal mit Schorsch teilte. Die Jugendredaktion wurde aufgemischt, wir flogen raus. Georg verzog sich nach Norden, wo seine Tante eine Hütte auf Hiddensee besaß. Er schrieb mir, dass er nachdenken müsse.
Wir hatten an der Fakultät eine Eignungsprüfung abgelegt, wir wollten beide ein Volontariat absolvieren und Journalistik studieren. Nach dem Parteiverfahren fiel das selbstverständlich aus. Ich wurde mit Hilfe meiner Eltern an die Pädagogischen Hochschule abgeschoben. Freunde seines Vaters brachten ihn in einer Druckerei unter. Damals waren derartige Niederlagen ein Sakrileg.
Ich dachte immer, Schorsch wird durch mich nur an die Demütigungen erinnert, die er in diesem Jahr erlebte. Das Ordnungsverfahren hat uns tief getroffen. Der Wechsel aus dem Heim ins Internat der Hochschule, die neuen Kommilitonen, Studienbeginn und anderes haben mich abgelenkt. Vielleicht waren wir beide zu unreif zu erkennen, was wir einander bedeuten könnten.
Sie hatten die Allee verlassen und einen der Nebenwege eingeschlagen. Am Rand tauten schmutzige Schneereste, aber die Rhododendronbüsche hatten schon Knospen getrieben. Mitten im Rasen streckten sich die ersten Frühjahrsblüher.
Dr. Frolland nickte, dachte kurz nach, bevor er sprach. Der traumatische Auslöser war also Ihr Déjà vue. Sie erlebten noch einmal die alten Verletzungen. Ich wusste davon, er hat mir von einer Parteistrafe erzählt. Ich lernte Georg in Berlin kennen, nachdem er seine Schriftsetzerlehre beendet hatte und an die Uni kam. Seine spätere Frau studierte mit mir in der selben Seminargruppe. Anita mochte ihn sehr. Ob sie Georg geliebt hat, bezweifle ich. Sie wurde neugierig auf ihn, noch ehe sie erfuhr, wer sein Vater war. In Berlin konnten weder er noch Gerald Grünwald ihre Verwandtschaft verheimlichen. Als Anita die Familiengeschichte erfuhr, kam mit dem Verliebtsein ihr Helfersyndrom durch.
Wir hatten ein gemeinsames Interesse am Studentenclub. Georg sollte sich bewähren, er wurde gedrängt, das Programm zu gestalten, Anita und ich waren beauftragt worden, unsere Fakultät zu vertreten. Er trank zu viel, sie half ihm da raus.
Diese Art Verbindung hält nie lange, weil sich einer schließlich lösen muss, damit nicht beide in einen Abgrund von Abhängigkeiten stürzen. Gerade weil er das verstand, ging er von ihr und dem Kind fort. Ich warnte sie. Sie glaubten mir beide nicht, heirateten ziemlich schnell. Zur Hochzeit sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Erinnern Sie sich daran?
Marika hielt die Luft an. Frolland in der Heideklause?
Im aufregendsten Jahr ihrer Studienzeit schrieb Georg Einladungen an einige Leute aus seiner Klasse. Er lud Ira und Jan ein, Gunther und Titus kamen. Natürlich war Uli zur Stelle. Marika hatte Dimo davon kein Wort gesagt. Er mochte ihre Freunde nicht. Sie war verwirrt, sie wusste von Rika nur, dass Schorsch mit dem Trinken aufgehört hatte und in Berlin studierte. Nebenbei gestand ihr Erika, dass sie von einem Kubaner schwanger sei.
Mika zögerte, sich selbst davon zu überzeugen, dass Rika und Schorsch nicht zusammen lebten, aber ihr dennoch beide verloren gingen. Sie ahnte, dass die Braut ihren Berliner Anhang mitbringt. Zu viele Leute, die den Tag nicht besser machten. Mikas Sehnsucht war größer als die Enttäuschung. Sie musste mit eigenen Augen schauen, was in der Heideklause passiert.
Unser Kinderheim lag unmittelbar am Wald, erklärte Marika. Vor drei Jahren gab man das Gebäude dem ehemaligen Eigentümer zurück. In den Fünfzigern, zu Beginn der Sechziger war es unser Zuhause. Die Heide gehörte wie ein endloser Park dazu. Sie war der Fluchtweg aus dem Alltag, Abenteuerspielplatz und Forschungsprojekt. Rika, Schorsch und ich machten wundervolle Touren durch die Jahreszeiten, manchmal war Uli dabei, die in unserer Nähe wohnte. Mit sechzehn und später landeten wir regelmäßig in der Heideklause. Oswald, der Wirt mochte uns. Wir halfen ihm an den Wochenenden, das Geschirr abzuräumen und spülten es in der engen Küche. Er stellte uns dafür ein Bier hin, Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Wir würfelten mit dem Stammgästen, die uns mal Wodka, mal Doppelkorn spendierten. Oswald passte auf, dass wir nicht abstürzten.
Er war ein ehemaliger Spanienkämpfer und Häftling aus Buchenwald, doch er unterhielt sich selten mit seinen Gästen über Politik.
Oswalds Waldgaststätte hielt im Obergeschoss ein paar Räume für Gäste bereit. Nachdem seine Mutter gestorben war, renovierten wir mit ihm das ganze Haus. Es war Schorschs Idee gewesen. Wir holten ein paar Freunde dazu und machten die Klause zu einem begehrten Haus für Heidewanderer. Keine Frage, warum Georg seine Hochzeit mit Anita bei Oswald feiern wollte.
Jetzt erklärt sich auch für mich, warum der Wirt Georg die Heideklause zugesprochen hat.
Frolland holte seine Camel-Schachtel aus der Kitteltasche, betrachtete sie und überlegte sich offenbar, ob er rauchen sollte. Diesmal bot er keine Zigarette an.
Ich weiß noch, dass alle Ehemaligen der 12A ihre Partner mitbrachten. Da zog Erika mit ihrem farbigen Freund mehr Augen auf sich als die Braut. Sie, Marika, kamen allein, die Gäste tanzten auf der Terrasse um das Brautpaar, es war schon heftig getrunken worden. Hat Sie das abgestoßen? Sie hielten sich steif zurück, bis Georg Sie zum Tanzen holte. Sie trugen ein besticktes langes Kleid, das Tanzen machte Sie lebendig.
Da war ich sicher: Anita ist die Falsche. Er nimmt sie aus Dankbarkeit, er glaubt, sie hat ihn gerettet.
Marika kickte mit den Stiefelspitzen beim Gehen Kiesel vor sich her, bis auch das nicht mehr half, bei sich zu bleiben. Sie hätte gern eine Zigarette genommen. Rauchen kann vieles bewirken. Die Zeit anhalten, peinliche oder hinterhältige Momente überbrücken. Sie hatte sich auf Georgs Hochzeit das Rauchen abgewöhnt und erst nach der Schwangerschaft mit Amina wieder zu Nikotin gegriffen.
Es war ein seltsamer Tag, sagte Marika Dimow. Ich kann mir die Anita von 1968 kaum noch vorstellen, aber ich traf dort zum ersten Mal Moreno, Erikas Freund. Beide gingen mir ans Gemüt. Ich fragte mich, was eine korrekte Frau mit Georg verband und warum der Kubaner, der für seine Affären in ganz Leipzig bekannt war, mit einer Deutschen unbedingt ein Kind haben wollte. Und mir war schleierhaft, warum die blonde Anita als Braut ein apfelsinenfarbenes Kleid trug. Wäre Rika von Georg schwanger gewesen, hätte ich ihn verstanden..
Marika wollte gar nicht wissen, warum Frank Frolland sich an sie so genau erinnerte. Sie wich ihm aus. Er verkniff sich diesmal ein Lächeln und setzte seinen Bericht fort.
Anita hat sich Georg ausgesucht, weil sie damals wie heute viel von Konventionen hielt. Sie glaubte, er sei für ein gutbürgerliches Leben geschaffen, erklärte Dr. Frolland. Ich sagte schon, ich kannte Georg, ich mochte ihn und begriff an diesem Tag, dass Sie ihm viel näher standen als irgendwer in der Runde.
Frolland wechselte die Richtung, am Hörsaal der Chirurgie vorbei. Anita hat ihren Fehler erst nach dem Studium begriffen, als Georg ständig unterwegs war. Er wurde als Auslandskorrespondent aufgebaut.
Anitas gut gemeinte Absicht, Georg von der Flasche wegzuhalten, funktionierte noch, doch sie konnte ihn nicht an ihre eigenen Pläne binden. Sie lebt noch immer in Berlin, arbeitet dort, wo sie auch studierte und hat sich mit ihrem zweiten Mann all das geleistet, was sie sich für Georg und den gemeinsamen Sohn erhoffte. Sie wohnt in Grünau in einem Einfamilienhaus mit Garten und Wassergrundstück, fährt in den Semesterferien mit einem noblen Reiseanbieter ins Ausland und belehrt ihre Studenten über die Psychiatriegeschichte.
Zu Georgs Trauerfeier kam sie nur, weil Sascha sie dazu gezwungen hatte. Er stand immer zwischen den beiden. Sascha hat seinen Vater wirklich geliebt.
Marika nickte. Während der Trauerfeier saß Sascha bei Ihnen. Er mag Sie mehr als seine Mutter. Ich vermute, dass Sie der beständigste Mensch in seiner Kindheit waren.
Frollands Verlegenheit war nicht zu übersehen. Völlig klar, dass er ablenken wollte. Sie hielten dennoch zu Anita, nicht zu Georg, schlussfolgerte Marika.
Im Gegenteil, widersprach Frolland, heftiger als er wollte. Georg und ich waren enge Freunde geworden, gerade weil er sich von Anita zu sehr bevormundet fühlte. Sie wissen sicher, dass er seine Mutter sehr jung verlor? Vielleicht musste er erst etwas nachholen, was er bei keiner seiner Freundinnen gefunden hatte. Erika war zu unbeständig, Sie waren zu sanft, zu nachsichtig mit ihm.
Was wissen Sie von mir? Georg sah mich anders. Er nannte mich in unserer Schulzeit Micke. Meine Mutter hatte mich so gerufen, bis ich vierzehn, fünfzehn war. Sie verkleinerte mich nur, Schorsch meinte damit Mücke, die kleine Lästige. Ich war ihm zu stachelig, nervte ihn mit Fragen, widersprach ihm und wollte mit ihm nicht zum Tanzstundenball gehen. Ohne dass ich es begriff, änderte sich im Sommer 61 unsere Beziehung. Wenn man das unter Teenagern so nennen darf.
Das Jahr 61. Frank Frolland nickte. Er blieb stehen und blickte um sich. Sie waren am Geländezaun der Medizinischen Akademie angekommen. In unserer Generation gibt es niemanden, der sich nicht Zeit seines Lebens erinnern wird, was er in diesem Jahr erlebte, welche Begegnungen für ihn wichtig wurden und welche Verluste man erlitt. Georg war am 13. August bei seinem Vater in Berlin- Pankow. Sie planten, ein paar Tage gemeinsam zu verbringen. Daraus wurde nichts. Stundenlange Krisensitzungen im Schriftstellerverband, danach in der Möwe ein Umtrunk nach dem anderen. Sein Vater hielt Georg damals noch unter der Decke, der ständig wechselnden Liebschaften wegen. Georg war sechzehn, sich selbst überlassen, streifte durch den Ostteil der Stadt.
Einmal wurde er von Volkspolizisten aufgegriffen und Grünwald musste seinen Sohn vom Revier abholen. Man hatte Georg verdächtigt, durch eine undichte Stelle in den Westen fliehen zu wollen. Sein Vater wusste es besser und hat ihn dennoch bestraft, indem er seinen Sohn vorzeitig ins Internat zurückschickte. Georg hatte gehofft, euch dort zu treffen, Erika und Sie.
Marika Dimow glaubte dem Doktor aufs Wort. Er kannte Georg, er mochte ihn, wusste genug, um ehrlich über den toten Freund zu reden.
Vielleicht glauben Sie, dass der Dreizehnte Georg tief getroffen hätte. Das war nicht so wichtig, Doktor Frolland. Es kam viel schlimmer. Im Mai waren wir noch ahnungslos. Wir tobten uns beim Twist und Samba aus. Die Klasse fuhr im Sommer an die See. Wir Internatsschüler waren nicht dabei, wir hatten nur zweimal im Jahr die Gelegenheit, unsere Eltern zu besuchen, Weihnachten und in den Sommerferien. Als Rika und ich ins Kinderheim Weltfrieden zurückkehrten, gab es dort keine Veränderungen. Die Grenzschließung war nur in der Schule Thema. Dann passierte eine Katastrophe. Aber das ist keine Geschichte, die sich nebenbei erzählen lässt.
Frank Frolland schlug vor, sich in die Cafeteria zu setzen. Es war kühler geworden, er wollte Marika Dimow nicht gehen lassen, bevor diese Geschichte erledigt war.
Frank Frolland schaute auf die Uhr, als die Serviererinnen in der Cafeteria die Tische abräumten und die ersten Stühle hochstellten. Er hatte die Uhrzeit vergessen, während Marika Dimow sprach. Niemand war gekommen, um sie abzukassieren. Das Abendessen auf der Station war vorüber. Man wird Frau Dimow vermisst haben. Was auch immer sich die Serviererinnen in der Cafeteria über ihre letzten Gäste dachten oder was den Stationsleuten einfiel, Marika schien es nicht zu beschäftigen.
Frank Frolland fühlte sich nicht wohl. Sie war die Schutzbefohlene, er hatte den richtigen Augenblick versäumt. Er dachte nicht an sich, er befürchtete Ärger für die Patientin.
Marika spürte seine plötzliche Unruhe, zählte eins zu ein und kam auf den selben Schluss. Machen Sie sich keinen Kopf. Egal, was die Schwestern dem Stationsarzt sagen, niemand wird nachfragen, denn mein Ruf ist ohnehin ruiniert.
Frolland konnte nicht anders als grinsen. Er rauchte nicht, aber das Camel-Lächeln war geblieben.
Schön zu hören. Damit beruhigen Sie mich und meinen Kollegen. Sie schätzen Ihre Lage sehr real ein. Erst vor seinem Tod hat mir Georg von dieser Episode erzählt. Er hatte im Herbst 61 eine heftige Depression. Den Zustand kannte er schon. Er hielt sich wie beim Alkohol für vorbelastet, seiner Mutter wegen. Vor Almuths Suicid war er Zeuge gewesen, wie der Heimleiter sie behandelte. Sie wissen vielleicht noch, dass Almuth Stein im Chor mit Stähler ständig zusammentraf. Er war übergriffig geworden. Niemand weiß, wie weit seine Nötigungen gingen, ob sie ihm entgegen kam oder nicht. Georg beobachtete beide, als sich Almuth einmal gegen Rudolf Stählers Handgreiflichkeiten wehrte. Er drohte ihr, nannte sie eine jüdische Schlampe.
Rika und ich haben nie etwas davon erfahren, beteuerte Marika. Doch in ihr drin liefen Filme ab, die etwas anderes sagten. Gesten, Blicke, das Mienenspiel, wenn Almuth unter den Altistinnen stand und dem Blick des Chorleiters auswich. Am Klavier war das kein Problem. Am Klavier war sie unschlagbar. Erinnerte sich Marika an die Zimmernachbarin, hörte sie Tschaikowski in B Moll.
Frolland wusste mehr von Georg als gedacht.
Hat Schorsch dazu in den Befragungen ausgesagt?
Ihr ward gerade siebzehn geworden, Stähler hatte das Gerangel um die Spitze der Heimleitung gewonnen. Nur einmal vertraute Georg jemandem an, wie sehr er unter seinem heimlichen Wissen litt.
Dem Schuldirektor, platzte Marika heraus. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, warum man Schorsch wie ein rohes Ei behandelte. Sein Vater hätte das nie veranlasst. Was hatte ihn dazu gebracht, von seinem Verdacht zu reden?
Soviel er mir erzählt hat, war es Oswald, der Wirt in der Heideklause, der euch mal über seine Zeit im Lager berichtete, weil ihr nicht locker gelassen habt. Ihr hattet Streit in der Klasse. Georg war mit Markus Brand aneinander geraten. Er erzählte Oswald davon und sie sprachen über die Rechten, die sich links gaben., über die Linken, die rechte Methoden benutzten, und über den Missbrauch von Macht.
Oswald kam zu dem Schluss, dass sich nichts ändern würde, solange die einen die anderen mit gleiche Mitteln bekämpften und die dritten schwiegen. Ich habe den Wirt kennengelernt. Erinnern Sie sich? Georgs Hochzeit. Er hat in Georgs Leben einen wichtigen Platz eingenommen.
Schorschs Aussage vor dem Direktor hat Rudi Stähler nie geschadet, stellte Mika zornig fest. Niemand hat sich gefragt, warum sich Almuth aus unserem Fenster stürzte. Auch Oswald konnte Schorsch nicht vor sich selber retten. Ein Wirt und sein bester Kunde. Dort hat Schorsch mit siebzehn Freundschaft mit Meister Alkohol geschlossen.
Darüber müssen wir reden, versuchte Frolland einzulenken. Sie wollen immer noch, Georg wäre ein anderer gewesen? Aber Menschen sind wie sie sind und haben nicht immer die Chance, den Lauf ihres Lebens aus eigener Kraft zu verändern.
Marika gab nicht nach. Was haben Sie dazu getan, wenn Sie sich als Schorschs Freund bezeichnen?
Sie hatte ihn getroffen.
Dr. Frolland erhob sich, zog eine Geldbörse aus der Kitteltasche und legte einen Schein an sein Gedeck.
Genug für heute. Sie vergessen diese Frage nicht, ich werde mich auch daran erinnern. War es für Sie leichter, hier zu reden als auf der Station im Zimmer?
Jetzt erst entsann sich Marika an ihren Vorwurf, dass Krankenzimmer krank machen. Er hatte sie hierher gebracht, weil er ihr eine Chance geben wollte. Sie entschuldigte sich für nichts. Sie ging nachdenklich den Kiesweg durch die Parkanlage der Klinik zu.
Entweder Doktor Frolland traf pünktlich ein oder er kam gar nicht. Diesmal fand Marika Dimow eine Telefonnotiz der Stationsschwester am Mittagsteller. Bitte warten Sie in der Cafeteria auf Dr. Frolland. Es könnte später werden, er ist noch auf der Autobahn.
Marika legte sich für eine Stunde aufs Bett. Die heiße Suppe, die Medikamente machten sie müde. Sie war länger weggetreten, schwitzte. Nur das Gefühl einer Bedrohung war geblieben. Sie stürzte in die Badzelle und duschte. Wacher wurde sie nicht.
Lila, ihre Mitbewohnerin in der Heideklause hatte ihr am zweiten Tag eine Reisetasche voller Shirts, Socken, Slips ins Krankenhus gebracht. Da sie selber keine Unterhemden trug, vergaß Lila diese beim Packen. Marika zog ein langärmliges Shirt unter den Pullover.
Die Jeans rieb sich an der Innenseite ihrer Schenkel. Die rechte blaue Socke war kürzer als die linke. Bei näherer Betrachtung gehörten sie nur im Farbton zusammen. Marika musste mit einigen Minuten Fußweg bis zur Cafeteria rechnen. Sie beschloss, sich um die Länge ihrer Socken keine Gedanken zu machen und schlüpfte in Stiefel und Kapuzenjacke. An der Tür tastete sie nach ihrer Geldbörse, schnappte sie aus dem Bettschränkchen und begann zu laufen.
Es war Punkt Drei. Kuchen- und Kaffeesüchtige hatten sich in der Cafeteria versammelt. Gestern waren viele Stühle unbesetzt, weil Marika Dimow und Frank Frolland erst nach einem Spaziergang ankamen. Er war nicht in Sicht.
Marika atmete ruhiger. Sie nahm einen Tisch an der Längsseite, an der es keine Fenster gab. Deshalb waren diese Plätze nicht so begehrt. Die Jacke hängte sie über ihren Stuhl. Eine knappe halbe Stunde musste sie jeden vergraulen, der sich zu ihr setzen wollte, dann kam Frolland, in Anzug und weißem Hemd unter der Weste. Krawatten mochte er offensichtlich nicht.
Ich war in Berlin. Sascha hat heute Morgen seine Arbeit verteidigt, erklärte er aufgeregt. Er bat mich, zum Essen zu bleiben.
Und? Marika hoffte, er würde sich beruhigen und setzen und mehr von Schorschs Sohn berichten.
Summa cum laude. Es war kein leichtes Thema. Er lässt Sie grüßen.
Wir haben seit langem nichts mehr miteinander zu tun, wehrte Marika ab. Vor und während der Grundschulzeit haben Schorsch, Rika und wir, die Dimows einige Male einen gemeinsamen Kurzurlaub organisiert. In den Böhmischen Wäldern gibt es wildromantische Plätze zum Campen. Meine Kinder mochten Georgs Sohn. Sascha war begeistert von Hindernisläufen über Bäche und zwischen Felsen und Unterholz hindurch. Die drei liebten die Höhlen im Sandstein, das Dickicht in den Wäldern. Sascha konnte nicht verstehen, warum Konstantin, der Ältere keine Lust aufs Bergsteigen hatte. Wie erklärt man Kindern, wenn ihnen Grenzen gesetzt werden müssen? Kostjas erste Herz-OP war ein Schock für uns alle. Er selbst sprach nicht darüber.
Vor etwa 15 Jahren waren wir mit Sascha zum letzten Mal gemeinsam unterwegs. Ich habe ihn zur Trauerfeier kaum gesprochen. Er ließ seine Mutter einfach stehen, setzte sich zu Ihnen auf die andere Seite der Bankreihen.
Sascha war zu Lebzeiten seines Vaters der ewige große Junge. Markenklamotten, aber Studentenlook, lange Haare, meist unrasiert. Er ist ein ansehnlicher Mann geworden, ähnelt ein wenig seinem Großvater. Sehr groß und schlank gewachsen, mit einem Selbstbewusstsein, dass ich Georg gewünscht hätte.
Sascha hatte einen Vater, der ihn selbstlos liebte, erklärte Dr, Frolland, was man von Georgs Erzeuger nicht behaupten kann.
Er sah das leere Glas und fragte, ob Marika einen zweiten Tee haben möchte.
Ich habe mit dem Kaffee nur auf Sie gewartet, weil ich keine zwei vertrage, antwortete sie. Zuviel Coffein haut mich um.
Frolland bestellte und brachte zwei Gebäckstücke aus Blätterteig von der Theke. Die müssen Sie probieren. Sauerkirschen und Mandelcreme, nicht süß.
So freundlich er begann, so sachlich wurde er, nachdem sie gegessen hatten.
Waren wir bei Georgs Hochzeit stehen geblieben? Erika Abel hielt bis zum Schluss durch, Sie waren nach zwei Stunden verschwunden. Wann haben Sie Georg aufgegeben und warum? War es der Alkohol?
Marika schüttelte den Kopf. Er war nicht nach Alkohol süchtig, viel mehr nach Heiterkeit und Freude. Er regulierte seinen Konsum, aber er missbrauchte oft hochprozentige Getränke. Schorsch hat nur dann zu viel getrunken, wenn er keinen Ausweg wusste. Da war kein Rhythmus, kein System. Wäre er so weit gekommen, wenn er Alkoholiker gewesen wäre? Seine Essays wurden in der ausländischen Presse gedruckt, seine Drehbücher verkaufte er unter anderem an das Westdeutsche Fernsehen. Er arbeitete oft Tage und Nächte durch.
Sogar als sein Dokumentarfilm nach der Uraufführung verboten wurde, soff er sich nicht ins Koma. Obwohl so ein Verbot gewöhnlich die Karriere versaute. Er fand andere Wege, sich auszudrücken.Georg war bereits im Ausland bekannt. Während der Biermann-Affäre trat er aus dem Verband aus, aber er beteiligte sich nicht an den politischen Debatten und Aktionen.
Frank Frolland unterbrach. Er wollte die andere Seite der Geschichte bloß legen.
Dass er durch das Verbot in Depressionen fiel, habe ich verhindert. Er wollte raus aus dem Land, ich begleitete ihn nach Rumänien. Vier Wochen lang erkundeten wir das Land von den Karpaten bis zum Meer. Am Ende erwog Georg, bei Oswald in die Heideklause einzuziehen und endlich einen Roman zu schreiben. Wir wollten beide Berlin verlassen. Die Luft wurde uns zu knapp. Ich schaffte es, er nicht. Er kehrte Saschas wegen zurück. Das war ein schwerer Fehler. Der Junge war bereits alt genug, auch mal nach seinem Vater zu sehen. Marika, warum beantworten Sie nicht meine Frage? Warum haben Sie Georg aufgegeben?
Ich sagte bereits, dass mich manche Bilder wie Furien verfolgen. Schorsch wusste davon. Aber er vergaß es oft. Georg Grünwald verstand die Kraft der Sprache wie kein zweiter.
Als wir nach dem Ordnungsverfahren das Pressehaus verließen, setzten wir uns an den nahen Zwingerteich und schwiegen. Wir begriffen, dass unser Studienplatz an der journalistischen Fakultät nicht zu retten war.
Nach der Eignungsprüfung hatte uns die Kommission vorgeschlagen, ein einjähriges Volontariat vorzuziehen, damit wir uns praktisch aufs Studium vorbereiten. Sie wissen, dass in den Sechzigern berufliche Erfahrungen gern als Voraussetzung für Aus- und Weiterbildungen gesehen wurden. Aber durch einen einzigen Artikel, den wir auf der Jugendseite veröffentlicht hatten, haben wir uns selber abgeschossen.
Wir saßen am Teich, froren in der Junisonne und beteuerten einander, dass wir immer noch Glückskinder sind. Die Abiturprüfungen lagen gerade hinter uns. Georg hatte einen Durchschnitt von 1,3 geschafft, ich einen von 1,5. Niemand konnte uns das noch nehmen. Doch welche Uni würde Achtzehnjährige mit einer Parteistrafe immatrikulieren? Georg fürchtete sich davor, seinen Vater anzurufen. Ich beschwor ihn, seine Tante Maja als Vermittlerin einzuspannen. Sie kennen die Parkanlage zwischen Semperoper und Zwinger, Doktor. Wir beobachteten die Karpfen, die Schwäne und Enten. Es war noch nicht zwölf, wir waren allein. Schorsch beruhigte sich. Dann sah er, dass ich weinte. Er dachte, es wäre wegen der Versammlung und ihres Urteils über uns, und fragte allen Ernstes, seit wann ich mir etwas aus der Meinung anderer mache. Er kam nicht auf die Idee, dass ich unseretwegen heulte.
Wir werden uns aus den Augen verlieren, jeder wird in eine andere Richtung ziehen, sagte ich. Ich war noch nie allein. Ohne Erika und dich wird das die Hölle.
Schorsch umarmte mich und heulte mit. Ich weiß, was Einsamkeit ist. Ich weiß es, Mika. Es ist, als würde man mir die Haut abziehen. Ich stehe und mir blutet die Seele.
Was er aussprch, machte mich fast wahnsinnig vor Angst. Ich kannte seine Abgründe, diesmal erschrak ich vor ihm bis in die Knochen.
Ich begleitete ihn zu Maja und Hans, dort kippte er einen Doppelkorn nach dem anderen. Ich nahm mir ein Taxi und fuhr ins Heim. Er kam nicht einmal zur Zeugnisübergabe. Wir sahen ihn erst drei Jahre später wieder, bei einem Klassentreffen. Da war er schon mit Anita liiert. Und ich ließ mich breit schlagen, Dimo zu heiraten, damit er unbegrenzten Aufenthalt in Deutschland bekommt. Nur durch Rika blieben wir drei verbunden. Sie stellte uns ihren Kubaner vor. Dann kamen die Kinder zur Welt. Mein Kostja, ihr Ernesto. Rika siedelte nach Kuba über, das Leben hatte andere Pläne als wir.
Als sie schwieg, bemerkte sie Frollands Miene. Er hatte verstanden. Sie sah, was andere mit Worten ausdrückten, sie sah in Bildern, was in den Köpfen anderer passierte. Frank Frolland erkannte den Grund ihrer Verzweiflung.
Es ist keine Abnormität, keine Krankheit, auch keine Einzelfall, Marika. Wir sind erst am Anfang, dieses Phänomen zu erforschen. Er versuchte zu erklären, was man nicht in drei Sätze fassen konnte. Sie besitzen eine Gabe, mit der man wahrscheinlich sehr diszipliniert umgehen muss, damit sie keinen Schaden anrichtet.
Ich weiß. Marika war die Gelassenheit in Person, als sie weitersprach. Aber ich konnte mich nie anderen mitteilen. Meine Großmutter hielt es für kindliche Phantasien, meine Mutter für hysterische Anfälle, um ihre Aufmerksamkeit zu binden. Da hielt ich meinen Mund.
Marika merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie atmete durch. Ich höre auch, wenn ich mich an meine Toten erinnere, Rikas Stimme, ihre Flüche, ihre Schmeicheleien. Und ich erinnere mich an Gerüche von Personen, von Orten, an denen ich mich mal gut, mal schlecht gefühlt habe. Angenehmer ist es, sich an Musik zu erinnern. Da entstehen Landschaften aus reinen Farben.
Im Traum fällt mir leichter, mich zu erinnern. Ich kann sehr gut unterscheiden, wann ich wache oder träume. Nur im Traum beherrsche ich alle Strophen von Schillers Ode an die Freude.
Frank Frolland, in seiner Verlegenheit über ihr Geständnis, hob die Tasse, aber sie war leer. Dann blickte er Marika an. Überraschung, Aufmerksamkeit, Zuneigung spiegelten sich. Er schwieg, aber sie hatte nichts mehr zu sagen. Schließlich fiel ihr ein, dass sie ihn um etwas bitten wollte.
Können Sie beim Stationsarzt intervenieren? Ich vertrage die Medikamente nicht. Sie verzerren meine Wahrnehmung.
Ich werde es versuchen, Marika. Ich denke auch, auf Dauer sind sie keine Lösung. Je eher Sie davon loskommen, um so wichtiger wird eine intensive therapeutische Arbeit. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, Sie weiterhin zu betreuen.
Er erschrak über ihre Reaktion. Marika Dimow war erstarrt, senkte den Kopf, einen Augenblick lang zitterte sie und hielt sich an der Tischkante fest.
Frolland bereute, dass er so schnell und scheinbar ablehnend reagiert hatte.
Ich hatte praktisch noch nie mit Synästhesie zu tun, ein Fall wie Ihrer ist mir neu. Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich vor dem nächsten Treffen einen meiner Lehrer konsultieren. Ich gebe Sie nicht auf. Ich möchte nur sicher sein, dass ich das Richtige tue.
Er schien sie ein wenig beruhigt zu haben. Marika versuchte ein Lächeln. Sie fehlen mir, Erika und Georg. Dass ich Tote fühlen, hören, sehen kann, wenn ich an sie denke, macht es so schwer. Ich fürchte dabei, ich könnte mich in eine andere Welt verabschieden. Sagen Sie mir, warum wir unseren Ängsten mehr Glauben schenken als unserem Lebensmut?