Kriminalkommissarin Gitta Jagoda und ihre Fälle
Kriminalkommissarin Gitta Jagoda, Mitte Dreißig, hat ihr Jurastudium abgebrochen, um zur Polizeifachhochschule zu wechseln. Obwohl sie Jahrgangsbeste wird, lässt man sie im Revier Nord Streife fahren, im Dresdner Viertel, in dem sie bei ihre Tante und Pflegemutter Louise Baum aufgewachsen war. So scheint es immer zu sein. Lernen auf die harte Tour. Da lässt sich Gitta Jagoda ins Dezernat 4 zu den Fahndern der Vermisstenstelle versetzen.
In diesem neuen Fall scheint sie selbst das Opfer zu werden. Was spektakulär als Entführung beginnt, wird zu einer der größten Herausforderungen für Gitta Jagoda, ihren Mann, ihre Freunde.
Daverian
1 Daverian
Schluss für heute! rief Thomas Schubert von seinem Schreibtisch her. Er war der Vorletzte im Großraum. Gitta schreckte hoch. Schon war er weg. Sie sah auf die Uhr und beruhigte sich. Jaro kam nicht vor acht heim. Dennoch schloss sie alle Tabs, schob die Notizen übereinander, legte sie in die oberste Schublade, fuhr den Computer herunter. Mit der Jacke über der Schulter und ihrer Tasche unter dem Arm lief sie den Gang lang, Richtung Feierabend.
Sie erblickte ihn durch die Glastür. Er stand an der Anmeldung, ein Anzugträger, der aus einer Ledertasche seinen Pass holte und ihn durch den Spalt zwischen Sicherheitsglas und Tresen schob. Der Wachmann gab ihm das Ding zurück. Sie sah nur sein Profil deutlich; das dickfellige Haar nach hinten gestrichen, die kräftige Nase nicht zu lang, der Schädel von der hohen Stirn bis zum Kinn scharf gezeichnet.
Als sie durch die Tür trat, drehte er sich zu ihr, ein waches Gesicht mit weit offenen Augen. Grau oder blau, das konnte sie auf die Entfernung hin nicht sagen. So dunkel wie die Haare war auch der schmale Bartrand von den Ohren zum Kinn und um den sanften Mund. Mittelmeer, dachte sie. Türke vielleicht.
Sie bemerkte erst jetzt, dass der Polizeimeister sie beim Namen rief. Kommissarin Handel, hier will jemand zu Ihnen. Ich habe gesagt, dass Sie nicht mehr im Haus sind.
Bin ich aber. Gitta fiel die Jacke von der Schulter, als sie durch die Drehschranke wollte.
Sie reagierte zu langsam. Er stand vor ihr, die Schranke zwischen ihnen. Ihre Jacke hatte er in der Linken.
Sie sind? Statt eines höflichen Danke, fragte sie nach seinem Namen.
Hauptkommissar Pal Daverian. Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstand. Ein Ton wie die gespannte A-Seite einer Gitarre.
Ich muss Jaro Handel sprechen. Er kennt mich. Rufen Sie ihn an! Der Mann an der Wache wollte mich nicht mehr durchlassen.
Recht hat er. Es ist 18 Uhr, erklärte Gitta. Sie gab dem Wachmann dennoch ein Zeichen.
Er hatte sich aufgestellt, um den Besucher und die Kommissarin zu beobachten. Nun betätigte er den entsprechenden Knopf. Die Schranke ließ Daverian durch. Er blieb für einen Moment mit seiner Anzugjacke hängen, sie sah darunter eins von den Hemden ohne Kragenecken, die auch Jaro liebte. Handgenähtes Leinen; wie sein Anzug etwas dünn für die Tage der Eisheiligen. Sein Aftershave roch harzig-herb wie ein Waldweg.
Gitta wendete sich zum Fahrstuhl und ließ den Besucher eintreten. Kein Wort unterwegs. Sie vermied es, ihn anzuschauen. Sie spürte, wie er sie beobachtete. Sie ließ ihm auch beim Aussteigen den Vortritt. Nicht aus Höflichkeit. Was immer ihre Synapsen in der Amygdala aktivierte, sie achtete nun darauf, dass er vor ihr ging.
Die Kommissarin und der Besucher befanden sich im dritten Stock, im Dezernat 1, Höchstpersönliche Rechtsgüter, Leib und Leben. Sie waren noch keine fünf Meter weit gekommen, da schwenkte er links ab und öffnete die nächste Tür. Die Küchenecke des Dezernats.
Woher wusste Hauptkommissar Daverian, dass es hier und nur hier an Kameras fehlte, dass er hier mit Sicherheit kaum einen Kriminalisten traf? Nicht sonnabends nach sechs. Oder er wusste nicht und hatte intuitiv die nächstliegende Gelegenheit genutzt. Gitta folgte ihm, griff an ihren Hosenbund und stellte fest, dass sie die Waffe im Schreibtisch eingeschlossen hatte.
Er schlug die Tür hinter ihr zu. Er hatte sie überlistet.
Der Mann war einen Kopf größer als sie, fast 20 Pfund schwerer. Muskelmasse. Dick war er nicht. Hauptkommissar Daverian. Nie gehört. Auch nicht von Jaro.
Er drückte sie mit seinem Körper gegen die Küchenzeile, fasste ihre Haare im Nacken und schob ihren Kopf dicht vor sein Gesicht. Seine Augen waren immer noch aufgerissen, glänzend vor Erregung.
Was läuft hier für ein Spiel? Wo ist Jaro? Ich bin seit Jahren mit Handel befreundet. Er ist Einzelkind und ich kenne seine Frau. Wer bist du und wohin bringst du mich?
Gitta spürte seinen Zorn körperlich, und noch etwas anderes. Es gefiel ihr beides nicht. Wenn jemand sie berühren durfte, dann wollte sie es ausdrücklich genehmigt haben. Sie war nicht wütend genug, unfähig zur Gegenwehr.
Soll das eine Art sexueller Missgriff werden, Hauptkommissar, oder die handgreifliche Befragung eines Superbullen?
Er lockerte seine Umklammerung, ließ die Haare los, ließ sie noch nicht gehen. Er atmete kurz aus. Er klang wie ein fauchender Fuchs.
Von einem Missgriff kann nicht die Rede sein. Scheint so, du bist die abgebrühteste Nummer im Haus.
Er nahm Abstand.
Ich hab dich was gefragt.
Gitta bemühte sich um einen überlegenen Blick. Daverian reagierte belustigt. Also, wer schickt dich und was weißt du von mir?
Ich weiß nichts von Ihnen. Ich könnte genau so gut behaupten, ich würde alle seine Freunde mögen, nur, weil ich Jaros Frau bin. Er hatte schon vor mir ein Leben. Es wird einen Grund geben, dass er nie von Ihnen gesprochen hat.
Sie brauchte Luft, weil er sie immer noch bedrängte, versuchte es im guten. Claudia wohnt wieder in London. Ich b i n Jaros Frau. Und ich hatte vor, Sie zu ihm zu bringen. Das fällt jetzt aus.
Der Druck ließ nach. Daverian zog sich zurück. Was sie ihm zugute hielt. Sie hatte die Waffe in der Innenseite seiner Jacke gespürt und musste sich selbst vorwerfen, wie nachlässig, wie dumm sie gehandelt hatte. Er hätte sie an Ort und Stelle umbringen können. Nein, hätte er nicht. Es sei denn, er wäre mit einem Schalldämpfer ausgerüstet oder würde seine großen Hände benutzen. Letzten Endes wäre er bei Jaro gelandet. Als Fall für die Mordkommission, sicher nicht als Freund.
Daverian drängte. Wo finde ich Hauptkommissar Handel? Daheim geht er nicht ans Telefon und an sein Mobile auch nicht. Ich muss ihn sofort sprechen. Allein. Bring mich zu ihm.
Einmal beim Du, konnte er sich nicht mehr zu einem respektvollen Sie entschließen. Das war sein zweiter Fehler.
Gitta legte Wert auf Zwischentöne. Ein Mensch in Zivil, mit Waffe am Körper, der behauptete, ihren Mann zu kennen. Sie würde ihn mit Sicherheit nicht in Jaros Zimmer bringen. Sie fühlte sich nicht mehr bedroht, aber gewarnt. Sie log, was ihr gerade einfiel.
Einsatzbesprechung. Hauptkommissar Jaro Handel sitzt seit fünf beim Dezernatsleiter. Wenn Sie mögen, bringe ich Sie da hin. Der Chef soll entscheiden, wann Jaro mit Ihnen einen Termin vereinbart.
Pal Daverian zögerte. Er spürte, dass er diese mittelgroße Frau mit dem disziplinierten Körper und dem losen Mundwerk nicht unterschätzen durfte. Eigentlich ein Durchschnittsgesicht. Es sei denn, seine Mädchen würden aus ihr etwas machen. Andererseits war gerade die blasse, glatte Haut mit einem Anflug von Sommersprossen anrührend. Augenbrauen und Wimpern glänzten dunkler als die ungefärbten kurzen Haare. Der Ausdruck der hellen Augen wechselte so schnell, dass er nicht wusste, woran er war. Das Besondere: ihr fast zu großer Mund. Viele Männer mögen das.
Verdammt, er dachte schon wie ein Bordellbesitzer. Er war keiner, aber er hatte hin und wieder mit ihnen zu tun. Zu oft.
Bring mich zu Jaro, versuchte er es noch einmal. Ich kann hier niemandem vertrauen, nur ihm. Er arbeitet am Mordfall Lars Erikson. Dazu muss ich eine Aussage machen. Von mir aus geh zu diesem Chef und hol Jaro mit einem Vorwand raus. Aber sprich mit ihm erst, wenn ihr allein seid, dann bring ihn her. Sag ihm, Pal hat Material für ihn und in eurem Haus sitzt ein Maulwurf. Wenn irgendwer außer Jaro erfährt, dass ich in eurer Kaffeeküche stehe, bin ich tot.
Und wer sagt mir, dass Sie nicht auf meinen Mann schießen?
Jaro sagt dir, wer ich bin.
Gitta klopfte mit den Handknöcheln dreimal kurz, einmal lang auf die Arbeitsplatte. Ich melde mich damit, bevor ich reinkomme. Ich meine nur: ehe Sie mich abknallen.
Er griff nach ihrer Jacke, ihrer Tasche als Pfand. Dann ließ er sie gehen.
Gitta trabte auf die Tür der Nummer 301 zu. Die Hauptkommissare der Mordkommission waren nur über das Sekretariat und Polizeimeisterin Evelyn Krause zu erreichen. Ihre Tür ließ sich nicht öffnen. Evelyn war natürlich bereits daheim und Jaro schloss sich nie ein. Er steckte anderswo.
Gitta kalkulierte. Sie brauchte zu viel Zeit, in den Zimmern des Dezernats anzuklopfen, die Beratungsräume aufzusuchen oder bei Hohenkampf vorzusprechen. Sie griff in ihre Hosentasche, wählte auf dem Handy die Kurzwahl zu Jaro und hoffte, dass sich nicht die Box meldet.
Jaro klang, als müsse er gegen den Straßenverkehr anschreien. Was gibt’s?
Im Präsidium wartet jemand auf dich. Kennst du einen Pal Daverian?
Ich verstehe nicht, Liebes. Bin mit Felix und Johannes unterwegs. Die Leute vom BKA wollen den Tatort sehen. Kannst du nicht…
Kann ich nicht, ich stecke in der Klemme. Hör mir nur zu und sage nichts außer ja oder nein.
Ja.
Er wusste Bescheid. Er hatte keine Dramaqueen geheiratet. Ehe Gitta zugab, dass sie in Schwierigkeiten geraten war, mussten schon die Sohlen brennen.
Ich bin noch im Präsidium, begann Gitta. Die Wache hat mir einen Hauptkommissar Daverian aufgehalst. Er wollte zu Handel, ich habe das ernst genommen. Er sagt, er traut nur dir. Kennst du ihn?
Ja.
Kann ich ihm trauen?
Nein.
Was soll ich tun?
Nein.
War die falsche Frage. Sie sah es ein. Nochmal anders.
Willst du mit ihm reden?
Ja. Unbedingt.
Ich mag ihn nicht, ich meine: nicht zu uns nach Hause bringen. Wir wollten das sauber trennen mit Job und Privat. Was hältst du davon, wenn ich ihn zu Felix fahre?
Nein.
Verstehe. Heike wäre neugierig. Tante Louise ist verschwiegener.
Nein.
Verflucht und zugenäht. Ich sage vor dem Wochenende nicht gern verflucht. Ich weiß auch nicht mehr, wohin mit dem Kerl. Er behauptet, er will eine Aussage zu Erikson machen. Soviel er weiß, ist es dein Fall.
Sie sprach schneller. Sein Auftritt sagt mir, dass es ihm ernst ist und er deine Hilfe braucht. Oder du seine. Bleibt nur Sophias Sprechzimmer. Ärztliche Schweigepflicht inklusive. Es wäre für die Nachbarschaft unverfänglich, wenn ein Fremder zu ihr kommt.
Ja. So ist es besser. Für einen Moment zögerte Jaro, dann ergänzte er. Wird spät heute.
Was so viel hieß wie: Ich beeile mich. Das sagte noch gar nichts. Jaro trödelte nie. Nicht privat und nicht im Job.
Ihre Vorsichtmaßnahmen waren überflüssig, wenn nur Felix Brauhaus und Johannes Brambacher im Wagen saßen, aber vielleicht auch nicht. So brauchte Jaro niemandem Erklärungen abzugeben. Gitta musste zurück, den Wahnsinnigen im Auge behalten.
Er hatte den Wasserkocher gefüllt und zwei Teebecher auf die Arbeitsplatte gestellt, suchte im Hängeschrank nach etwas, das nicht nach Gras oder Trockenfrucht schmeckte. Er fand eine Dose Lipton English Breakfast. Gittas ehemaliger Partner Felix wollte Jaro ärgern, bevor sein Gruppenleiter mit den Scheidungsunterlagen nach London flog. Die Dose war drei Jahre alt und ungeöffnet.
Gitta schüttelte den Kopf und griff nach der linken untersten Schublade, wo unter Servietten die kleinen Muntermacher, die Reste einer Dezernatsparty lagen. Rum, DryGin, Korn oder Weinbrand?
Er konnte noch lachen. Ziemlich bissig. Seine Schneidezähne waren fast quadratisch. Makellos für einen über vierzig. Kein Raucher. Auch darin war er Jaro ähnlich. Sie hatte richtig kalkuliert. Er griff nach dem DryGin, 20 cml, verzichtete aber nicht auf einen Beutel Schwarztee. Und du?
Ich muss noch fahren. Wer sagt mir, dass Sie wirklich und tatsächlich Pal Daverian sind?
Meine ehrlichen Augen. Meine Papiere sagen etwas anderes. Frag nicht.
Gitta schaute hin, schätzte mehr blau als grau. Sie füllte mit heißem Wasser auf, ließ etwas Luft, um kaltes nachzugießen.
Trinken Sie schneller! Eine Putzkolonne kümmert sich nach sechs um die Gänge, Toiletten und Küchen im Haus.
Er pustete, schlürfte, bis er feststellte, dass der heiße Tee mit dem kalten DryGin schon genießbar war.
Du tust mir gut. Woher kommt dein Sinneswandel? Hast du mit Jaro gesprochen. Wo bleibt er?
Jaro ist mit dem BKA im Außeneinsatz. Weder ich noch der Wachmeister konnten das wissen. Der Mann hat nur Handel gehört und mich gesehen. Inzwischen weiß das ganze Präsidium, dass wir verheiratet sind. Unser Personal ist nach sechs over the limit. Jaro wird nicht so schnell loskommen, also bringe ich Sie dahin, wo er Sie später treffen kann.
Sie überlegte kurz. Wir fahren zurück ins Erdgeschoss, gehen über den Hof durch das B-Tor und fahren mit meinem Wagen zu einem sicheren Ort. Wenn uns jemand begegnet, tun Sie nichts, was Sie bereuen könnten. Mich kennt man. Sie sind der Kollege von Anderswo. Ich nehme jetzt mein Handy aus der Tasche, ich will uns ankündigen.
Sein waches Gesicht verzog sich. Der dunkle Bartrand machte es nicht besser. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er in einem Thriller glaubwürdig auf der falschen Seite spielen. Jetzt roch sie sein Misstrauen, die innere Abwehr. Wenn er sie auch nur am Ärmel berühren wollte, sie würde zuschlagen, wie sie es gelernt hatte.
Gitta trat ein paar Schritte zur Seite, um mit Sophia zu telefonieren. Sie musste nicht warten, die Freundin ging sofort an ihr Smartphone.
Psychotherapie Finding, was kann ich für Sie tun?
Bist du in der Praxis oder in deiner Wohnung?
Gitta! Wie schön. Lange nichts gehört. Willst du mich besuchen? Noch sitze ich im Gartenhaus. Meine letzte Patientin ist gleich weg.
Lange ist übertrieben. Wir haben uns neulich im Projekttheater getroffen. Sophia, tut mir leid, dass ich dich überfalle. Ich brauche dein Häuschen. Nur für heute Abend. Du bist am besten nicht mehr da, wenn wir kommen, und legst den Schlüssel zwischen die Lavendelbüsche. Wenn alles gut geht, klingle ich später noch bei dir.
Stopp mal! Sophia Finding ließ sich nicht kommandieren. Wie du weißt, mache ich unter anderem Paarberatungen; für Seitensprünge gebe ich meine Praxis nicht her.
Soll das ein Witz sein? Jaro kommt dazu, sobald er kann. Wir wissen nicht, wo wir seinen Freund bis dahin unterbringen können.
Wieder missverstand Sophia die Situation. Oder auch nicht. Neben dem Beratungsraum habe ich ein kleines Büro. Da gibt es eine Liege hinter der Tür. Decken findest du im Kasten darunter. In der Kühlbox stehen leider nur Wasser für meine Patienten und Milch für Kaffee. Morgen habe ich ab 9 Uhr einen Termin. Dann musst du oder wer auch immer weg sein, wenn ihr mich nicht sehen wollt.
Ich erklär dir alles danach, versicherte Gitta der Psychologin. Sie mochte sich nicht festlegen, wann dieses Danach sein sollte.
Pal Daverian folgte mit höflichem Abstand der Kommissarin, als wäre es nie anders gewesen. Sie die Frau, die wusste, wo es lang geht, und er der Gast des Hauses. Sie querten den Innenhof des Präsidiums, nahmen den Ausgang für Dienstfahrzeuge und standen in der Fußgängerzone vor dem Albertinum.
Gitta Jagoda hatte morgens einen Parkplatz am Präsidium ergattert. Der direkte Weg durch den Haupteingang, am Wachmeister vorbei, wäre kürzer gewesen, doch sie wollte ihm nicht zeigen, dass sie das Gebäude gemeinsam verließen. Daverian schien mit jedem Schritt steifer zu werden, beobachtete aus den Augenwinkeln die Umgebung.
Als sie im Wagen saßen und Richtung Osten fuhren, atmete er durch. Seine voluminöse Ledertasche hielt er mit beiden Händen auf den Knien. Er blickte gerade aus, als er sie ansprach.
Ich hoffe, du weißt, was du tust. Wenn wir den falschen Leuten begegnen, sind wir beide tot.
Sie wollen damit sagen, wir sind zwei Leichen auf Bewährung, gab Gitta zurück. Habe ich schon einmal gehört. Sind wir alle von Geburt an. Ich denke, Sie vertrauen grundsätzlich keiner Frau. Und wie der dumme Zufall es will, fährt Sie eben eine Frau zu einer Frau. Ich hoffe stark, Sie kommen mir jetzt nicht mit diesem unsäglichen Nitzsche-Zitat.
Daverian zeigte wieder seine großen Zähne.
Ich gebe zu, Jaro war von uns beiden immer der Geduldigere. Er könnte es mit dir unmöglich aushalten, wenn er es nicht geblieben wäre.
Gitta schwieg, fuhr einfach weiter. Sie brauchte ihre Nerven für den Samstagabend-Verkehr. Sie musste den Mann auf dem Beifahrersitz einfach ignorieren. Wenn er mit seiner Paranoia Recht hatte, sollte sie darauf achten, ob ihnen jemand folgt. Das schien ihr übertrieben.
Nachdem sie die Brücke hinter sich gelassen hatte, war sich Gitta Jagoda sicher, dass niemand ihrem alten Auto folgte. Sie fuhr rechts in die versmogte Bautzener Straße ein, bog Minuten darauf links in eine Nebenstraße ab.
Blühende Vorgärten und edle alte Häuser, die gehobenen Ansprüche der aufstrebenden Mittelschicht. Aber auch Fahrbahn und Beleuchtung waren vom vorigen Jahrhundert. Das schmiedeeiserne Tor an der Villa Amalia stand weit offen, ein Teenager im Kapuzenshirt kam ihnen entgegen und verschwand um die Ecke.
Sophias Dacia Sandero parkte hinter dem Haus. Gitta stellte ihren klapprigen Fiat daneben. Sophia fuhr den kleinen, billigen Wagen, seit sie sich von Frank und dem BMW getrennt hatte. Der war ein Geschenk des Ex gewesen, sie war nicht die Frau, die Rechnungen offen ließ.
Sophia Finding hatte die Praxis im Gartenhaus verlassen. Der Schlüssel steckte, in eine braune Filtertüte gewickelt, im großen Pflanzentopf links neben dem Eingang. Diesmal ging Gitta Jagoda wieder voraus. Gewohnheit, im Fall eines Falles ihre Freundin zu decken. Die rechte Innentür stand offen. Es roch nach Jakobs Krönung und Keksen. Gitta kannte den Vorraum, der als Wartebereich eingerichtet war. Und sie kannte das Gesprächszimmer von Sophia, mit der klassischen Couch an der rechten Wand, mit den zwei kleinen Ledersesseln, dem Tischchen dazwischen, auf dem sich Sophia gewöhnlich Notizen machte, sichtbar für ihre Klientel.
Wie immer stand auf dem Sideboard neben Mineralien, vor der mattgrünen Tapete ein Ikebana-Arrangement. Eine von Sophias ehemalige Patientinnen war Kado-Meisterin. Sie lieferte wöchentlich.
Die frühe Pfingstrose glänzte in tiefem Weinrot, wie Seidensamt nach einem Regen. Weißer Ginster und ein Schlingkraut füllten den schlanken Hals der lackschwarzen Vase.
Der Anblick schmerzte und erfreute zugleich. Gitta vergaß, was vor einer halben Stunde passiert war. Sie hatte sich gefürchtet wie nur selten, war erregt und zornig gewesen, hatte mit Jaro gesprochen, seine Klarheit und Kraft gespürt. Das alles gehörte zu ihr.
Die Angst war vorbei. Was jetzt kam, besaß eine innere Ordnung, folgte einem Gesetz. Sie würde wissen, was es bedeutete, wenn die Zeit reif war.
Hinter sich hörte sie Daverians Atem. Ich war noch nie bei einer Psychoanalytikerin. Er blieb vor einem silbern gerahmten Foto stehen. Der gute alte Freud, sagte er.
Gitta korrigierte ohne Ironie. Kein Kinnbart, also Carl Gustav Jung im Alter von, sagen wir 61 Jahren, als er den Aufsatz „Wotan“ schrieb. Er bezeichnete Deutschland darin als geistiges Katastrophenland. Er konnte nicht ahnen, dass wir 80 Jahre später wieder so weit sind.
Daverian ließ sich nicht anmerken, ob ihn die Belehrung ärgerte. Er schien unzufrieden mit diesem Ort, mit dieser Situation.
Gitta zeigte auf die offene Bürotür. Dahinein bitte, Herr Daverian oder wie Sie heißen. Hier ist Sophias Raum, hier haben wir nichts verloren. Wir können in ihrem Büro einen Kaffee kochen. Im Wartebereich liegen ein paar Zeitschriften für die Patienten; ich kann sie holen.
Sag Daverian. Jaro nennt mich so. Unterhalten wir uns. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, möchte wissen, wie es ihm geht. Ich erfuhr erst heute früh, dass er in dieser Stadt lebt.
Ich werde mit Ihnen nicht über meinen Mann reden. Gitta wendete sich hin und her, um sich zu beschäftigen. Kaffeekochen fiel schon weg, Sophia hatte die Glaskanne mit frisch Gebrühtem auf der Wärmeplatte deponiert. Auch drei Tassen und eine offene Dose mit Haferkeksen standen auf dem Wandtisch bereit, dazwischen ein Zettel.
Bedient Euch, mehr ist leider nicht da. Milch, wie gesagt, im Kühlschrank. Zucker gibt es bei mir nicht. Bb S.
Neben dem Bürostuhl lehnten zwei stabile Klappstühle am Arbeitsplatz, vermutlich aus Franks Gruppenraum auf der anderen Seite des Wartebereichs. Gitta richtete die Stühle auf den Wandtisch aus.
Jetzt sah sie auch die Liege hinter der halboffenen Tür. Wahrscheinlich hatte sich Sophia das Möbelstück fürs Büro angeschafft, als sie nach ihrer OP wieder arbeiten wollte. So konnte sie sich zwischen den Gesprächsterminen eine Ruhepause gönnen, ohne die Praxis zu verlassen.
Setzen Sie sich, trinken Sie Kaffee und verhalten Sie sich still. Ich muss kurz ins Vorderhaus gehen, da wohnt unsere Gastgeberin. Ich will ihr erklären, was hier läuft, auch wenn ich nicht genau weiß, worum es geht. Ich vertraue Jaro, nicht Ihnen, damit das klar ist. Er hätte anders reagiert, wenn er nichts mit Ihnen zu tun haben wollte. Sagen Sie mir, wie lange Sie uns brauchen, damit ich meiner Freundin eine Ansage machen kann.
Zum ersten Mal sah sie den kräftigen Mann mit dem dunklen Schädel und den hellen Augen müde und resigniert zugleich.
Ich weiß es nicht. Alles hängt davon ab, wie Jaro die Situation einschätzt und was er für mich tun kann.
2 Sophia
Sie öffnete sofort nach dem Klingeln. Dreimal kurz und einmal lang. Beethoven. Das war ihr vereinbartes Zeichen in Sophias Trennungsphase. Frank hatte sich immer mit Sturm gemeldet. Im Dauerton. Uneinsichtig, warum er verschwinden sollte. Ihre Freundinnen hielten sich an das Signal.
Sophia, traurige Falten am Mund, Schatten unter den Jochbeinen. Sie war immer noch nicht die selbstbewusste Frau von früher. Oder würde es nie wieder sein. Ihr fehlte nun der Glanz einer erfolgreichen Persönlichkeit.
Sie kleidete sich nachlässiger, bleichte ihr Haar nicht mehr. Es wuchs nach der Chemoptherapie struppig und eisgrau nach. Ihre mageren, fast knochigen langen Hände winkten. Komm rein, Gitta, wir wollen doch nicht zwischen Tür und Angel reden.
Kaum war Gitta eingetreten, umarmte sie die ältere Freundin. Unklar, wer sich an wem festhielt. Für ein paar Atemzüge spürten sie den Herzschlag der anderen. Sophia löste sich zuerst.
Was ist mit Jaros Freund? Und warum steckst du in Schwierigkeiten?
Sie kannten einander lange genug. Jaro Handel wäre nie auf den Gedanken gekommen, die Psychologin um Hilfe zu bitten. Er mochte Sophia und wusste sogar, warum. Doch sie blieb die Frau aus einer anderen Welt, einer, in die er einmal verstrickt war und nie mehr zurück wollte.
Gitta Jagoda teilte mit Sophia eine traurige Geschichte. Vor Jahren gab es einen Fall Bossberg. Gitta ließ sich von Tante Louise und ihren Freundinnen dazu überreden, nach Liane Bossberg zu suchen. Sie brachte eine Leiche heim. Sie hatte Fehler gemacht oder glaubte es zumindest. Egal, ob Jaro und die Kollegen wiederholten, dass, vom Täter abgesehen, niemand schuld sei, erst recht nicht Gitta, sie quälte sich lange damit.
Sophia, die selbst unter dem Tod von Liane litt, schaffte es, ihren Freundinnen über die Trauer hinweg zu helfen und die Kommissarin wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Manchmal, dachte Gitta, als sie Sophia in die Stube folgte, ist der Krug randvoll. Immer noch nimmt sie das Leid der anderen auf und vergisst ihr eigenes. Frank Frohberg wäre derjenige gewesen, der sie hätte halten müssen. Frank war ein kluger, netter Mensch, als begabter Akademiker mit eigener Praxis stadtbekannt, jünger als seine Lebensgefährtin. Spätestens Mitte Vierzig sollte das kein Problem sein. Was Sophia ihm voraus hatte, nutzte er und war dankbar dafür. Als sie schwächer wurde, kam er nicht mehr zurecht. Frohberg hatte nie gelernt, ihre Verletzlichkeit zu akzeptieren.
Sophias Wohnstube machte auf den ersten Blick keinen anderen Eindruck als früher, nur der große Bildschirm war verschwunden. Statt der High-Tech-Anlage stand auf der TV-Bank ein kleines tragbares Radio mit Kassetten- und CD-Player neben einem alten Plattenspieler. Auch in den Bücherregalen gab es irritierende Lücken.
Sophia setzte sich zurück auf den Dreisitzer, verloren zwischen Kissen, die sie sich aus allen Zimmern zusammengeholt hatte. Im Rücken ein großes mit einem Bettwäschebezug. Griffbereit eine billige Decke aus lila Synthetik.
Schläfst du hier?
Manchmal schaff ich es nicht ins Bett, rechtfertigte sich die Frau.
Hast du zu Abend gegessen?
Keinen Appetit. Liegt daran, dass ich immer noch Medikamente nehmen muss.
Gitta überlegte kurz und entschied sich. Ich bestell uns Pasta mit Gemüse, das geht am schnellsten. Sie ließ keine Widerrede zu. Wir essen zusammen, versprach sie, bevor sich am Handy der Lieferdienst meldete. Sie gab ihre Bestellungen auf und grinste in Sophias zerknittertes Gesicht.
Gitta wurde ernst. Dir kann etwas Abwechslung nichts schaden. Darin bin ich besser als du. Du lässt dich gehen. Erklär mir das. Du bist hier die Ärztin. Hast du ein Rückfall? Was ist los?
Weißt du, wie sehr du deiner Tante ähnelst? wich Sophia aus. Auch wenn sie nur deine Pflegemutter ist, du denkst und verhältst dich oft wie sie. Zumindest, was mich betrifft. Jetzt musst du noch Weingläser raus stellen, eine Kerze anzünden, wenn das Essen kommt, und eine Platte auflegen. Nicht bevor du mich fragst, was ich am liebsten hören möchte.
Stimmt. Es sieht aber nur so aus, als wollte ich dich bemuttern. Darin ist Louise viel besser. Tut mir leid, Sophia. Ich kann nicht lange bleiben. Ich muss Jaros Freund im Auge behalten. Er benimmt sich stark daneben, wer weiß, warum. Danke übrigens. Du hast keine Minute gezögert. Ich wünschte, ich könnte mit dir den Abend verbringen, doch ich will dich nicht in solche Sachen hineinziehen. Habe selbst keine Ahnung, worum es wirklich geht.
So also. Solche Sachen. Beruhige dich, ich frag nicht. Vielleicht kann ich noch etwas für euch tun, dann sag es ohne Hemmungen.
Ich weiß. Mir wäre lieber, du würdest mir sagen, was ich für dich tun kann. So geht das nicht weiter, Sophia. Arbeiten und umfallen, wieder aufstehen, arbeiten und wieder umfallen. Das war mal meine, aber nie deine Lebensart.
Was erwartest du? Wir haben uns vorige Woche im Theater getroffen.
Das war vor zwei Wochen, und die Karte hat dir Louise gebracht. Von allein wärst du nicht darauf gekommen.
Und am vorigen Sonnabend habe ich mit meinem Verleger im Adagio zu Mittag gegessen. Mir bleiben nur die Wochenenden für soziale Kontakte.
Genau das meine ich: du tust, was die anderen von dir erwarten. Wo sind deine eigenen Wünsche? Das ist erst Lebendigkeit: wenn sich unsere Wünsche zufällig treffen, immer wieder, nicht weil man sich anpassen muss. Kannst du mir einen Gefallen tun?
Sophia richtete sich auf. Gerne.
Wenn der Lieferdienst kommt, nimm das Essen entgegen, bat Gitta. Mich beunruhigt, was der Verrückte jetzt in deinen Räumen treiben könnte. Ruf mich an, ich komme und bezahle. Wir beide essen hier gemeinsam. Hoffentlich ist Jaro inzwischen eingetroffen.
Sophia nickte munter. Wir werden nicht aus Assietten löffeln. Ich decke uns einen richtigen Abendtisch. Wenn du magst, bring Jaro und seinen Freund her.
Gitta schüttelte wieder den Kopf. Keine Ahnung, ob er tatsächlich ein Freund ist. Und wie gesagt, wir werden dich nicht in diese Sache hineinziehen. Bis dann.
An den offenen Türen zum Wartebereich konnte Gitta erkennen, dass sich Daverian umgesehen hatte. Franks ehemalige Praxis gegenüber war verschlossen. Als sie die Haustür öffnete, versuchte er eben, das Schloss zu knacken. Er schämte sich nicht dafür.
Wo warst du? fragte er, als hätte er ein Recht auf sie. Dein Auto stand noch draußen. Ich wäre getürmt, wenn ich gewusst hätte, wohin.
Ich habe unserer Gastgeberin Bescheid gegeben. Sie hat eine Mietwohnung im Vorderhaus. Wie Sie am Schild neben dem Tor und dem neben der Eingangstür gesehen haben, sind wir hier bei Sophia Finding, Honorarprofessorin an der Universität, klinischer Psychologin und Psychotherapeutin. Sie ist eine Freundin von Jaro und mir und bietet Ihnen deshalb Asyl, ohne lange zu fragen. Das sollten Sie mit Vertrauen und Aufrichtigkeit honorieren.
Er griff in die Innentasche seines Jacketts. Gitta erstarrte. Aber da kam nur die Brieftasche in seiner Hand hervor. Wieviel?
Keine Ahnung, woher Sie kommen. Ich bezweifle inzwischen, dass Sie jemals Jaros Freund waren. Unter uns nimmt man kein Geld für das, was unbezahlbar ist.
Zum ersten Mal sah Gitta Daverian betroffen. Du hast recht, ihr könnt gar nicht wissen, worauf ihr euch einlasst. Ihr werdet Geld benötigen für das, was ich von euch brauche. Wenn eure Freundin nichts davon haben will, auch gut. Vielleicht kann ich irgendwann anders zurückzahlen, was ich ihr schuldig bin.
Gitta ging voraus, durch den Gesprächsraum in das kleine Büro. Ich habe uns eine warme Mahlzeit zum Abend bestellt. Ich hole sie von Sophia, sobald sie sich meldet. Inzwischen sollten Sie die Zeit nutzen. Sie könnten aufschreiben, was Sie Jaro über Erikson sagen wollen. Einfach, um die eigenen Gedanken zu sortieren. Papier liegt im Drucker. Sophia hat Stifte oder Kulis in der Lade.
Ruf ihn nochmal an, frage, wann er kommt. Ich will nur mit ihm reden, nichts hinterlassen, was andere lesen können.
Gitta hatte genug.
Das ist nicht meine Art, Jaro bei der Arbeit zu stören. Wir müssen hier warten, bis er frei ist. Ich weiß, was ich tue und was ich sage. Das Geschriebene spart Ihnen und Jaro langes Gerede. Formulieren Sie so, als wenn Sie zu ihm sprechen. Das zwingt zu einer konzentrierten Aussage. Formulieren Sie Fragen, die er stellen könnte. Sie können von mir aus alles anschließend im Klo runter spülen.
Sie hatte ihn überzeugt. Pal Daverian nahm am Arbeitstisch Platz, griff zum Druckerpapier und kramte in seiner Ledertasche nach einem Schreibgerät. Er begann zu notieren. Gitta atmete auf, trank langsam den lauwarmen Kaffeerest aus und setzte sich dazu auf die Liege neben der offenen Tür. So hörte sie besser, ob sich jemand dem Gartenhaus näherte.
Zeit verging, sie stand auf und suchte im Bettkasten nach Decken. Sophia hatte sie gut beraten. Der Abend wurde kalt. Die Eisheiligen hatten begonnen. Als das Handy klingelte, sprang Daverian auf. Jaro?
Gitta verneinte stumm. Sie hörte Louises Stimme. Tante Lou erzählte begeistert von einer Ausstellungseröffnung und beschwor Gitta, unbedingt vorbei zu kommen.
Ich weiß, du machst dir nichts aus Lachskannepees und Champagner, aber die Bilder, diese Farben! Ich sags dir. Komm her! In den nächsten zehn Jahren werden wir nicht mehr das Glück haben, von dieser Frau an einem einzigen Ort so viele Originale zu sehen.
Tante Lou, bitte nicht sauer sein. Ich melde mich sofort, sobald ich wieder zu Hause bin. Jaro und ich sind noch beschäftigt. Und die Ausstellung hängt wochenlang. Wenn die Bilder so gut sind, wirst du mit mir auch ein zweites Mal hingehen.
Pardonne moi, natürlich. Ich wollte nur gerne, du wärst hier. Ich war lange nicht so überrascht.
Tante Lous Französisch klang nach einem leichten Schwips. Sie ließ sich mit einem Versprechen trösten und legte zufrieden auf.
Gitta war nicht in den Sinn gekommen, dass sich Louise einsam fühlt. Früher begleitete sie ihre Tante und Pflegemutter gern zu Konzerten, zu Ausstellungen oder anderen beruflichen Anlässen und ging dienstags regelmäßig bei Louise vorbei. Gitta hatte in den Jahren ohne Partner einen Teil ihres Polizistinnen- und Privatlebens mit ihr verbracht. Am Schönsten waren die Abende, an denen es exzellente Mahlzeiten gab, Musik, Erinnerungen und Gedanken, die sie miteinander teilten. Gitta musste keine Gefühle vortäuschen, weil sie Louise liebte wie niemanden auf der Welt.
Jaro war seit drei Jahren hin und wieder dabei und genoss die Vertrautheit der beiden. Manchmal organisierte er Theaterkarten oder Ausflüge zu dritt. Er nahm Louise nicht nur in Kauf, er schätzte sie inzwischen als anspruchsvolle Gesprächspartnerin. Dennoch wurden die Begegnungen seltener. Ihre Arbeit hatte zugenommen, der Polizeiapparat rüstete technisch auf, personell blieb er eine Katastrophe.
Das Gespräch mit Louise war beendet, da ging die Tür des Gartenhäuschens auf, etwas mühsam oder vorsichtig.
Daverian griff wieder in sein Jackett, diesmal holte er eine Glock heraus. Gittas warnender Blick ließ ihn einen Schritt zurück treten, zwischen Aktenschrank und Fenster.
Sophia, in der Hand einen Klarsicht-Beutel mit Assietten. Dein Handy war besetzt, verteidigte sie sich. Sie stand schon im Büro, in ihrem eigenen. Wer wollte sie raus werfen?
Sie blickte auf die Glock des fremden Mannes, nickte. So, wie ich drauf bin, muss man mich fürchten, Herr…
Daverian antwortete nicht. Aber er steckte die Waffe weg. Er schnaufte. Weiber.
Die Frauen reagierten amüsiert. Sophia bestand nicht darauf, einander vorgestellt zu werden. Sie schob die leeren Tassen auf dem Wandtisch beiseite und packte die Portionen aus dem Beutel. Eine ließ sie drin und stellte sie auf der Arbeitsplatte neben ihrem Laptop ab. Tut mir leid, dass wir nicht genügend Platz haben, sagte sie. Wir können auch nicht auf Jaro warten, wenn die Pasta genießbar sein soll. Ich habe drüben eine Mikrowelle, falls er darauf Wert legt. Ehrlich, Gitta, ich bezweifle, dass er dein italienisches Fastfood mag. Entweder Essen wie bei Mámma oder gar nicht. Hättest du etwas bei einem Vietnamesen bestellt, würde er sicher nicht ablehnen. Die Asiaten sind ihm egal, solange sie sich beim Zigarettendealen nicht gegenseitig umbringen.
Sophia plapperte, als wolle sie Daverians Bemerkung über Weiber bestätigen. Gitta lächelte vor sich hin. Die Herrin des Gartenhauses beobachtete ihren Gast genau so gründlich, wie sie sein Misstrauen unterwanderte. Sie achtete nicht auf ihn, setzte sich als erste und öffnete den Deckel ihrer Portion.
Gitta hielt mit. Zum ersten Mal an diesem Abend entspannte sie sich. So dröge schmeckte die Mischung gar nicht. Die frischen Kräuter, die gebratene Zucchini und die Tomatenstücke in der Soße versöhnten mit dem taffen Preis.
Daverian blieb nichts anderes übrig, sich auf dem Bürostuhl zu den Frauen zu setzen. Er hatte lange nichts Warmes im Magen gehabt oder er war ein Vielfraß. Nach den ersten Bissen riss er sich zusammen. Die beiden Frauen blickten einander hinter seinem Rücken an.
Ein hungriger Mann ist ein Tiger, sagte Sophia. Ein satter Mann ein Teddybär.
Auch das gehörte zu ihrer Art. Sich in unberechenbaren Situationen dümmlich stellen.
Daverian schob den halbleeren Teller von sich. Was soll der Mist! Ihre Freundin hat mir gesagt, Sie seien eine gebildete Frau. Ich lass mich nicht an der Nase herumführen. Wie viel hat Sie dieser Abend schon gekostet?
Gitta kannte Daverian inzwischen. Sie war ein wenig erstaunt, dass ein Mann wie er die Psychologin siezte. Ihr gegenüber hatte er sich im Du festgefahren.
Sie sind unhöflich, Daverian, Sie sollten mit Ihren Beleidigungen aufhören. Wenn Sie wirklich mit Jaros Fall zu tun haben, riskiert Sophia viel mehr, als Sie gut machen können.
Sophia schmunzelte über Gittas Ausbruch, kaute langsam, aß nicht viel. Sie war es nicht mehr gewohnt.
Gitta hat acht Semester Jura studiert, wissen Sie das? Sophia hatte eine andere Tonart gewählt. Aber sie mag Praxis aller Art lieber als Theorien. Sie wäre dennoch eine gute Verteidigerin geworden. Vorläufig brauche ich keine. Hoffe ich. Und Sie, wie viel Beistand erwarten Sie von ihr? Was ist mit Ihnen los?
Daverian war fassungslos, seine Stimme brüchig.
Hier glaubt doch niemand, dass ich euch beiden was erzähle. Das habe ich alles nicht gewollt. Der Wachmann ist auf die Idee gekommen, mich durch die Schranke zu schicken. Wir hätten uns alle drei viel ersparen können.
Sie haben von Erikson gesprochen, drängte Gitta. Wir wissen nur, dass er gestern vor der Marienbrücke auf den Bahngleisen gefunden wurde.
Lars Erikson ist tot. Und ich werde nicht darüber reden, wie tot er ist. Ihr habt Essen auf dem Tisch. Jaro hat ihn sicher gesehen. Das, was von ihm übrig war. Was zu sagen ist, sage ich Jaro. Ruf an!
Das geht nicht, lehnte Gitta noch einmal ab. Sie behaupten, Sie kennen ihn. Ich habe ihm gesagt, dass Sie es eilig haben. Er weiß, wo wir auf ihn warten. Er kommt, so schnell er kann.
Seit unserem letzten Treffen sind ein paar Jahre vergangen, wich Daverian aus. Dazwischen liegen die Hochzeit mit Claudia und diese Stadt. Wenn er irgendwann mal an mich gedacht hat, dann vermutlich, dass ich in Berlin bin. Vielleicht hat er vergessen, warum.
Als Gitta und Sophia nicht weiter fragten, ließ sich Pal Daverian mit seinem Bürostuhl zurück an den Arbeitsplatz rollen.
Das Aufschreiben hat was gebracht, gab er zu. Ich habe sortiert, welche Details Vorrang haben, welche warten können und was ich selbst klären muss. Jetzt bitte ich, mich zu entschuldigen.
Er nahm die beschriebenen Blätter und verließ den Raum. Sophia platze fast vor lachen. For Eyes only. Geheimagent Null Null nimmt sein Top secret sogar mit, wenn er Pinkeln muss.
Er will das Geschriebene vernichten, erklärte die Freundin spöttisch. Sophia schüttelte sich immer noch.
Dann sprang sie hoch. Mein Abflussrohr. Es verstopft so schnell. Ich habe nur dieses eine WC. Ich brauche es für meine Patienten. Dein Daverian wird mich ein Vermögen kosten, denn der Klempner macht immer einen Wahnsinnspreis, wenn er sofort kommen soll.
Jetzt prustete auch Gitta wie ein Teenager. Dann soll Jaro alles wieder in Ordnung bringen. Was haben wir mit seinem Freund zu schaffen?
Die beiden beruhigten sich, sie hörten hinter der Wand mehrfach die WC-Spülung.
Wenn man sich schon einmal amüsieren darf, begann Sophia, dann muss man das auch noch für sich behalten. Wo bleibt dein Mann? Ruf ihn an!
Nicht du auch noch.
Das ist kein vernünftiger Satz.
Er kommt, wenn er kann. Wenn annähernd stimmt, was Daverian sagt, dann käme er lieber jetzt als dann.
3 Jaro
Kein Geräusch eines einfahrenden Autos. Nicht einmal die Schritte vor dem Haus oder die Eingangstür hatten sie gehört. Er stand und betrachtete die drei, die sich in dem kleinen Büro eingerichtet hatten.
Jaro überblickte die Situation. Wie nicht anders gewohnt, machte er auf die Wartenden den Eindruck, als käme er geduscht und frisch eingekleidet zu einem Treff mit wichtigen Menschen, die er beeindrucken wollte. Nur seine Stimme hatte den Tag nicht schadlos überstanden. Der Nikotingegner klang, als hätte er in den letzten Stunden Kette geraucht. Es war nicht allein das Wetter, das ihm zu schaffen machte.
Ihr hättet die Tür abschließen sollen. Was meint ihr? Braucht ihr mich noch?
Jaro Handel missfiel es, Pal zwischen zwei Frauen zu sehen, die nicht wussten wer Daverian war. Jaros Instinkt wollte Gitta schützen, weil sie sich im Privaten wie bei der Arbeit zu oft in Schwierigkeiten brachte. Auch Sophia machte keinen stabilen Eindruck. In einem abgetragenen Hausanzug hockte die ältere Frau in ihrem Büro, erleichtert, als sie Gittas Mann erkannte.
Schön, dass du endlich da bist. Wir sind die falsche Gesellschaft für deinen Freund. Er mag keine Frauen, behauptete Sophia.
Gitta hielt sich zurück. In Anwesenheit anderer Menschen mochte Jaro keine Gefühlsausbrüche. Auch nicht die kleinsten Gesten. Sie konnte es nicht lassen. Küsste ihre Fingerspitzen und warf ihm den imaginären Kuss zu. Hat gedauert, aber egal. Hier hast du deinen Daverian.
Der hatte sich vom Bürostuhl hochgeschoben, drängte sich an den Frauen vorbei, umarmte seinen alten Kumpel innig und ohne Worte. Jaro schien ebenfalls beeindruckt. Die Männer betrachteten einander, klopften auf die Schulter des anderen. Dann hielten sie sich wieder umschlungen wie ein Paar.
Gitta und Sophia waren reif genug, aus der Szene zu verschwinden, sich zumindest nicht zu rühren.
Ich darf nicht hier bleiben, drängte Daverian. Entweder Kronzeuge oder sofort eine andere Identität und raus aus der Stadt. Nach Berlin kann ich nicht zurück.
Jaro Handel nickte. Seine Worte sagten etwas anderes.
So schnell wird das nichts, Daverian. Ich muss erst wissen, was zwischen dir und Lars Erikson gelaufen ist. Dann kann ich sagen, was ich für dich tun werde.
Gitta war sich endlich sicher, dass sie richtig reagiert hatte. Jaro vertraute seinem Freund rückhaltlos, auch wenn er ihr geraten hatte, dem Fremden nicht zu glauben. Sie fühlte sich ausgeschlossen, war eifersüchtig, neugierig und verärgert, weil Jaro ihr nie von einem Pal Daverian erzählt hatte.
Seitdem sie sich ins Dezernat 4 versetzen ließ, kam es immer öfter vor, dass Jaro und sie keine Details ihrer laufenden Fälle austauschten. Die wenigen Stunden, die sie in der vergangenen Woche gemeinsam und mit angenehmeren Dingen verbrachten, konnten sie an einer Hand abzählen.
Meist brauchte es eine kleine Krise, damit einer den anderen um Verständnis bat für die eigene Erschöpfung oder verpatzte Gelegenheiten.
Gestern Abend hatten sie sich endlich mal ausgesprochen. Jaro betrat vorsichtig ihr Zimmer, nachdem Fix gegangen war und bat sie um Verzeihung.
Ich bin ein Idiot. Ich weiß nicht, wie ich ihn hinauswerfen soll.
Gitta stimmte zu. Bist du. Wie kannst du nur unterstützen, dass er seinen dicken Hintern nicht nach Hause bewegt? Heike leidet darunter, mehr als unter ihrer Kinderlosigkeit. Mehr als ich, wenn ich auf dich verzichten muss.
Jaro zog die Schultern hoch, seufzte. Er sagt, sie wünscht sich nichts mehr als eine Freigabe zur Adoption und glaubt, Felix könne den Amtsweg beschleunigen. Fix ist nur ein kleiner Polizist. Was soll er tun?
Letztendlich wollte Jaro sich um Heike keine Gedanken machen. Sie kann ich nicht glücklich machen, aber dich. Er legte sich zu ihr, nahm Gitta das Buch aus der Hand. Wollen wir reden?
Es war ein Angebot, das sie nie ablehnte. Sie fragte sich in diesen seltenen Augenblicken, warum sie Jaro geheiratet hatte. Sie brauchte kein amtliches Irgendwas für sich und ihn. Er schon. Er kam aus einer anderen, einer sehr traditionsverbundenen Welt. Jaro hielt sich an einigen bürgerliche Regeln wie an einem Kletterseil fest, sie gehörte zu den Freeklimbern. Sie brauchte nur seine Stimme, seine Wärme, seine Hände, seinen Atem, den Geruch der Liebe.
Jaro brauchte vorher immer dieses: Wollen wir reden? Er musste Unklarheiten ausräumen, allen angestauten Gedankenmüll aus dem Weg schaffen. Es war ihm wichtig, dass zwischen ihnen nichts unausgesprochen stand.
Danach blieb er bei ihr. Jetzt erst entdeckte sie, wie heftig sie seine Zärtlichkeit vermisst hatte. Sie schliefen bereits ein paar Stunden, als sich die Dienststelle meldete. Kriminalrat Hohenkampf persönlich. Seitdem hatte Gitta Jagoda ihren Mann nicht mehr gesehen.
Jaro war daheim gewesen, er trug eine neue Jeans und einen wollweißen Pullover unter dem schwarzen Lederblouson. Gitta roch sein Deo, spürte, wie etwas in ihm arbeitete. Sie hatte Sehnsucht nach ihrem Mann. Der reichte erst Sophia die Hand, dann ihr. So, als wären sie gute Bekannte, mehr nicht. Daverian stand hinter ihm.
Auch Jaros nächste Frage war nicht an Gitta gerichtet sondern an Sophia. Dürfen wir uns nebenan in dein Sprechzimmer setzen? Daverian und ich müssen unter vier Augen beraten, wie es weitergehen kann.
Sophia Findig verneinte. Ihr bleibt hier. Gitta und ich werden in die Villa wechseln. Versteh mich nicht falsch, aber in meiner Praxis gibt es einen Raum, der sauber bleiben muss, das ist der Gesprächsraum. Und ich bin mir absolut sicher, dass ihr ihn nicht sauber halten könnt.
Das war die alte junge Sophia. Gitta verstand sofort. Jaro stimmte zu. Pal Daverian blickte verständnislos hin und her. Dann begriff auch er. Das Büro ist o.K.. Wenn ich noch ein, zwei Blätter aus dem Drucker nehmen dürfte?
Sophia lächelte herzlich, die Geste einer aufmerksamen, verständnisvollen Frau.
Wenn Sie wieder die Toilette benutzen, werfen Sie bitte nur kleine Schnipsel rein. Sollten Sie über Nacht bleiben, kann uns Jaro Bescheid geben. Mir wäre es recht. Decken befinden sich im Bettkasten unter der Liege. Wie ich Gitta schon sagte: Mein erster Termin ist morgen früh um neun.
Jaro begleitete die Frauen bis zur Ausgangstür des Gartenhauses, Gitta hielt er kurz auf. Wir sprechen uns noch, Liebes. Ich werde dir bald alles erklären.
Eine flüchtige Berührung, die ein verfehlter Kuss sein konnte. Er war kratzig. Egal. Zum Umziehen hatte Jaros Zeit gereicht, nicht zum Rasieren.