I r a
Drei Kupferstiche hängen in der Wohnstube von Lorenza und Karl Gimel, einer deutsch-jüdischen Familie. Meister Dürer hat sie gefertigt, die Liebenden Adam und Eva, Ritter, Tod und Teufel und Melencolia, die rätselhafte Frau mit dem Wissen einer Göttin im Licht des Geistes, das immer wieder Rätsel aufgibt. Die Tragödien der Familie und des Landes sind das Erbe für Iras Kindheit zwischen Trümmern. Der Tod der Großmutter trifft sie tief. Lorenza hatte ihr die ersten Buchstaben im Buch des Lebens beigebracht. Die Eltern wie auch der Großvater sind im Jahr 1953 mit ihren eigenen Lasten und Verlusten beschäftigt. Ira, neun Jahre alt, muss sich auf ihre eigene Kraft besinnen, um das Rätsel der Melencolia zu lösen.
Kindheit buchstabieren
L E S E P R O B E
Paradies der Wörter
Als Ira die Augen öffnete, erschrak sie, weil sie ihre eiskalten Füße spürte. Sie lauschte. Stille im Dunkeln. Sie roch die feuchte Kalkwand neben ihrem Kopf. Sie schmeckte den Staub, der vom klumpigen Federbett aufstieg, hörte den schnaufenden Atem in Gitterbettchen gegenüber. Etwas fehlte, etwas Wichtiges war verloren gegangen, irgendwann in dieser Nacht. Angst zappelte wie ein Wurm in ihrem Bauch, kroch höher und höher. Wenn er das pochende Herz erreichte, würde es stehen bleiben. Für immer.
Das Kind schnappte nach Luft, drehte sich mühsam nach rechts und versuchte, auf den Boden zu kommen. Er war noch eisiger als die Füße.
Ira wollte schreien und blieb doch stumm, als wäre mit dem anderen, dem Unbegreiflichen, das sie sehnsüchtig vermisste, auch ihre Stimme verschwunden. Die Angst stieg immer weiter, trieb sie auch voran. Und gleichzeitig verstand Ira, dass sich Angst von der Finsternis nährte. Diese Nacht war wie keine andere.
Das Kind riss die Augen auf, ohne zu sehen, und setzte blind die schmerzenden Füße voreinander. Streckte sich zur Türklinke. Warmes, gelbes Lampenlicht kam durch den Spalt.
Warum haben sie die Tür geschlossen? Sie hatten es versprochen. Immer wieder. Immer blieb die Tür offen zwischen Mama, Papa und ihren Kindern. Und nun hatten sie sie geschlossen.
Ira fror im Hemd. Sorgsam zog sie die Tür auf, um mehr Licht herüber zu lassen.
Mama Friedel hing in der Sofaecke, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Papa Gerhard saß im Sessel daneben und hatte seine Hand mit dem breiten silbernen Ring auf ihre braunen Locken gelegt.
Jedes einzelne Wort schüttelte Mama aus sich heraus.
So viele Jahre habe ich gewartet. Es war grauenvoll, an dich zu denken und nicht zu wissen, ob du schon lange tot bist oder ob du wiederkommst.
Ira hielt den Atem an. Mama weinte wie ein Baby. Die große, laute, schöne Mama Friedel, die sich von niemandem etwas sagen ließ.
Papa sprach zu leise, es beruhigte Mama nicht.
Wir hatten einander versprochen, uns nie wieder zu trennen. Wir haben jetzt zwei Kinder. Wie soll ich alleine zurechtkommen, wenn du in Berlin bist?
Endlich verstand Ira, was er sagte. Du wirst nur so lange allein sein, bis ich eine Wohnung für uns gefunden habe. Du hast nebenan meine Eltern, kannst schnell zu deiner Mutter fahren, wenn die Zeit zu lang wird. Du besitzt mehr als die meisten Frauen in dieser Stadt, weil dein Mann lebendig davongekommen ist. Ich werde dir wieder viele Briefe schicken und ab und zu am Sonnabend mit den Zug heimkommen. Versprochen. Der Krieg ist endgültig vorbei. Wir haben jahrelang die Hölle überlebt, ohne uns zu verlieren, und du machst ein Drama aus den paar Wochen.
Mama hob den Kopf. Nichts ist vorbei. Ich kann nicht allein sein. Ich fürchte mich.
Ira konnte das Gesicht ihres Vaters nicht sehen, aber sie glaubte seinen Worten. Mama glaubte sie nicht. Warum sagte sie, dass sie allein sei? Sie brachte die einfachsten Dinge durcheinander. Mama hatte ihre zwei Mädchen, Ursula und Ira. Sie hatte Oma Lorenza und Opa Karl. Vom Balkon aus konnten sie Garten und Wohnung der Großeltern sehen. Wenn nicht Papas Worten vertrauen, wem dann?
Langsam schob Ira die Tür zu, bis noch ein schmaler Lichtstreifen ins Kinderzimmer fiel. Sie fror jetzt so stark, dass sie sich ins staubige, klamme Bett zurück wünschte. Der Frost kam nicht vom Boden, nicht von den Wänden oder dem verhängten Fenster. In ihr breitete sich ein Schmerz aus wie ein unsichtbarer, alles aufsaugender Strudel. Urselchen im Kinderbett schnaufte, babbelte im Schlaf. Plötzlich fühlte Ira, was Mama mit dem Alleinsein meinen könnte. Aber da gab es noch Wörter, die trösteten, andere, als Papa verwendet hatte. Wörter, die Bilder erscheinen ließen, die sich in Klänge verwandelten oder, laut gerufen, andere Menschen herbeiholen konnten. Alleinsein war in Ordnung, solange sie das Paradies der Wörter nicht vergaß.
Selbst im Liegen, die Decke bis ans Kinn, wollte keine Wärme kommen. Ira spürte wieder die eisigen Füße, den kleinen festen Bauch, schmeckte Bitterkeit, lauschte den dumpfen Stimmen weit weg, sah an der Decke den fahlen Lichtstrahl und fühlte ihr Herz. Es klopfte hart, dehnte sich heiß, presste das Blut von einer dunklen in eine helle Kammer. Nacht und Tag. Tag und Nacht. Kaum zu ertragen, dass sie mit beidem leben musste. Das war es. Niemand konnte sie davor bewahren, vor diesem Gefühl. Von jetzt an würde sie immer allein sein im Dunkeln. Nur dem eigenen Herzton lauschen. Bom-Bam, Bom-Bam.
Der sechste Nachkriegswinter im Land, der erste, in dem niemand vor Hunger sterben musste. Mama Friedel hatte Gäste eingeladen. Mit Lorenzas Hilfe besorgte sie tagelang die nötigen Zutaten für ein Festessen. Die Großeltern legten Parmaschinken und einen Panetone aus Milano auf den Tisch. Seit der Postverkehr wieder funktionierte, schickte Lia ihnen zweimal im Jahr ein nützliches Paket. Edith und Erich brachten Meißner Wein als Geschenk. Ursel krabbelte sofort auf den Schoß des Kindermädchens. Friedel schien das nicht zu gefallen. Ira hielt sich an ihre Großmutter, die Einzige, die den Wein nicht anrührte. Vielleicht der Grund, dass sie nicht permanent kicherte wie die anderen. Auch unter sechs Erwachsenen konnte sich ein Kind allein fühlen. Mit Ursele, der halben Portion, ließ sich leider nicht richtig reden. Ira sehnte sich mitten im Weihnachtsspektakel nach einem Moment der Stille, wo sich rettende Wörter im Kopf zu Perlenketten reihen konnten, wo dieser Tag einen Sinn erhielt. Dieser Abend in einer engen Wohnung, mit roten Kerzen auf der dürren Fichte. Als die Großeltern sich verabschiedet hatten, Ursel schlafend in Ediths Armen ins Kinderzimmer gebracht wurde, nahm Papa sein großes Mädchen auf die Knie. Ich sehe dich so selten, Renele.
Jedes Wort von ihm klang wunderbar, wenn Ira den Kopf an seine Brust lehnte. Die glitzernden Vokale, die tiefen Konsonanten. Erich, Edith, Friedel und er sangen quer durch die alten und neuen Liederbücher. Kling Glöckchen klingelingeling, Old Man´s River, Ej uchnjem, jeschtscho ras ej uchnjem, Die Gedanken sind frei, Avanti popolo, alari scosa, bandiera rossa trionfera, Leise rieselt der Schnee, Oh when the saints go marchin´ in, Brüder reicht die Hand zum Bunde. Zum Schluss noch Spi, Mladenjez, moi Prekrasny. Schlaflied für einen herrlichen Heldensohn. Dann brachten die Eltern auch Ira zu Bett, die Lampe ging aus, Bom-Bam, Bom-Bam.
Ein paar Tage später war Papa über Nacht verschwunden. Ursel fragte ein paar mal nach, Ira war nicht erstaunt oder erschrocken. Etwas in der Art lag schon in der Luft, vor ein paar Tagen, im Singsang der Stimmen, in einer beinahe vergessenen kalten Nacht.
Mama Friedel hatte wochenlang mit niemandem Geduld, nicht einmal mit sich selbst. Was noch schlimmer war: Mama musste vor der Zeit aufhören, für die neue Bezirksverwaltung, die ehemalige Landesregierung Sachsen zu rechnen. Edith protestierte nicht nur, sie weigerte sich, für die paar Mark zwei Kinder und eine unglückliche Frau zu versorgen. Der wahre Grund: Erich hatte eine eigene Wohnung gefunden. Sie wollten heiraten. Einen Wohnungsschein gab es nur für Ehepaare. Edith wollte ernsthaft wie Friedel werden, eine Frau mit Beruf und Familie und so weiter.
Da nahm Oma Lorenza Ira mit in ihre nach Ambra und alten Büchern duftenden Räume, las in Englisch und Deutsch Limericks vor, erfand mit dem Kind kleine Geschichten. Ira entdeckte die Farben der Wörter neu, ihre Haut, ihr Blut, ihr Fleisch. Lauschte mit geschlossenen Augen den schwingenden Tönen im Herzen, erkannte in ihnen die gefürchtete Dunkelheit, wie auch helle Fünkchen von Hoffnung, blanke Heiterkeit oder pure Freude. Bom-Bam, Bom-Bam. Und plötzlich fiel ihr selbst eine Zeile ein, ein Reim, ein Singsang. Manche Wörter gelangen erst, wenn Ira sie ausspuckte, manche wollten leise genuschelt werden, wieder andere ließen sich sächsisch brabbeln. Oder mit Händen, mit Fingern formen, mit dem ganzen Körper spielen. Mama ermahnte sie. Was soll der Kauderwelsch. Hör auf zu zappeln. Oma Lo lachte darüber. Papa, als er nach zwei Wochen heimkehrte, fragte, was mit ihr passiert sei. Aber er hatte wenig Geduld für eine Erklärung. Hatte nur ein paar Stunden, einen Sonntagsbraten zu würzen, die Soße abzuschmecken, nach dem Essen mit Mama, Kind und Kinderwagen einen frostigen Spaziergang in den verschneiten Großen Garten zu unternehmen. Abends fuhr er mit Freunden zurück nach Berlin, irgend ein Jugendtreffen vorbereiten.
Großmutter Lorenza dagegen hatte ganze Schneeberge voll Zeit für die Enkelin. Sie notierte immer wieder auf einen Schreibblock ein paar von Iras Lieblingswörtern. Eigene und die der anderen. Manchmal blätterte das Kind darin, betrachtete sie lange und bat, dass die Großmutter eine Seite hoch und runter laut vorlas. Musik in seinen Ohren. Es war die Partitur der frühen Jahre.
Schusselmuttel meckert über Rabenvatergelaber, Trümmerpiraten beim Ruinenabbruch, Raddampferräder machen Elbwasserwellen, Rinnsteinratten, Schüttelschottersteinchen, Granitgrabplatten, erst Nackennisse, dann Läusebisse, vom Braunkohlengrus zum Ofenruß, Knöfchentöpfchen, Stiefelschnürsenkelschleifchen, Frühfrühlingsblüher unter der Eichhörnchenhaselhecke, Wurzelzwerg im Wurzelwerg. Bröselbrotkrümel, Blutwurstbrühe, Speckfettbemme, Kunsthonigkuchen, Magermilch-quark-quak-quak.
Ja, in diesen Jahren waren die Wörter ums Essen heilig. Sie zu hören, roch so fein, sie zu sprechen, schmeckte so verheißungsvoll. Und andere wieder waren schön, weil sie wie Zungenmusik klangen, besonders die Wörter, die sich nicht in Büchern finden ließen, die im Treppenhaus hallten oder beim Anstehen nach Wurstsuppe vor dem Fleischerladen durch die Reihe hüpften. Du nuschelst wieder. Warum bibberst du so? Musst du schon wieder lullern! Ich lach mich scheckig. Bäcker Krause macht bombige Geschäfte. Die arme Mutter Riedel arbeitet bis zur Vergasung. Oma, was ist Vergasung?
Manche Wörter waren so finster, dass nicht einmal Oma Lorenza Lust hatte, sie zu erklären. Dann schüttelte sie den Kopf, griff nach der Hand mit den abgenagten Fingernägeln und ging mit dem Kind in den Hausgarten. So verging das Frühjahr.
Während Mama Friedel zu Hause auf Rechenmaschinen tippte, Zahlenkolonnen in Formulare schrieb und sie in Mappen und Ordner heftete, zog Großmutter die ersten Radieschen, die sich im Schatten rauer Blätter versteckten. Sie zeigte Ira, wie sich Unkraut von den heilenden Kräutern unterscheidet, und rieb frischen Majoran zwischen ihren Fingern. Prüfte, ob er schon für die Kartoffelsuppe taugt. Die Hälfte des Gartens war mit Kräutern bepflanzt, nicht einmal die Hälfte der anderen Hälfte nutzte Oma Lo für eigene Suppen und Tees. Das war der Überfluss, den Oma Lo in der Kammer neben der Küche sammelte, um zu gegebenem Anlass das Gesammelte zu verteilen. Die meistern Pflanzen wurden Medizin genannt. Ira fand dieses Wort so scharf wie den Geschmack von Minze. Nur dass sich Minze mit Zucker sehr gut vertrug und manche der Medizinkräuter, mit oder ohne Süßes gallebitter blieben.
Bitte schreib sie auf, die süßen Wörter und lass die bitteren weg, bat das Kind. Ich will sie vergessen. Wenn ich zur Schule komme, kann ich die süßen alle nachlesen.
Tut mir leid, Renele, das nützt nichts. Wenn du glaubst, du kannst auf die bitteren Wörter verzichten, was tust du dann bei Zahnweh oder Magenschmerzen?
Mach Fenchelhonig ran oder Zucker, wenn du keinen Honig hast, antwortete das Kind.
Dann nützt dir kein Nelkenöl und auch kein Wermutkraut. Denk an den Salbeitee. Er hat dir nicht geschmeckt, aber geholfen hat er schon beim ersten Mal. Was soll ich nun aufschreiben? Und wohin? Wir haben jeden Tag ein paar Wörter notiert, aber sie sind nicht sortiert, sie stehen wild durcheinander. Wie wenn Akelei zwischen Tomaten wächst und Cosmea zwischen Zwiebeln. Was schlägst du vor?
Ich brauche eins von den dicken schwarzen Heften, wie du sie benutzt. Alle sammeln irgendwas, ich sammele Wörter, und du schreibst sie mir in ein Heft.
Du meinst meine Jahresbücher.
Großmutter öffnete die linke Tür ihres Schrankes. Da standen sie. Mal ein dickeres dazwischen, mal eins mit braunem Rücken, mal mit grünem Einband, fast alle in gleicher Höhe. Ira zählte bis 23, dann wusste sie nicht weiter.
Das hier, Großmutter zog eins heraus, das hier ist das Jahr, in dem du geboren wurdest. Und hier, sie schlug im letzten Drittel auf, hier habe ich deinen Namen stehen. Ich habe ihn als Ornament geschrieben.
Darf ich mich sehen? Das Kind stellte sich auf die Zehenspitzen, um in Großmutters Buch zu schauen. Mitten in den Zeilen fand es ein Muster, zart wie gestickt. Blumig, mit Ranken , Schnörkeln und Pünktchen.
Warum hast du das gemacht?
Ich wollte deinen Namen nicht auf die gleiche Weise festhalten wie ich über alltägliche Dinge schrieb. Es war ein besonderer Anlass und dazu brauchte ich besondere Buchstaben. Buchstaben, die ich aus einem sehr alten Buch abgezeichnet habe.
Und wo ist dieses Buch? Warum hast du es mir noch nie gezeigt?
Es es ist viermal so groß und sechsmal so dick wie meine Jahrbücher und steht in Opa Karls Zimmer. Es heißt Meißnische Land- und Bergchronik und ist annähernd dreihundertfünfzig Jahre alt.
Großmutter Lorenza öffnet die Tür zum Nebenraum und griff zielgerichtet ins Regal. Der in Leder gebundene Band war so groß wie hässlich, buckelig geprägt, schwergewichtig und fleckig gelb. Diese Buchstaben, diese Bilder, diese Zeichen hatte Ira noch nie gesehen. Und da. Sie fand einen wieder, einen Buchstaben aus ihrem Namen. Den Buchstaben mit dem Rrrucksack: R. Und Noch einen. E wie Ecke. Großmutter nannte ihr alle die Zeichen, die sich in den Mustern verbargen, beim Namen.
Was steht hier geschrieben? Hat man vor so vielen, vielen Jahren auch schon von Kindern wie mir erzählt? Von Kindern nicht viel, aber manchmal auch von ihnen, wenn sie später Fürsten und Könige werden sollten. Hier steht die Geschichte eines ganzen Landes. Hier wohnen wir. Im Meißner Land, in Sachsen.
Und warum hat man dieses Sachsen aufgeschrieben?
Das Land hat sich Jahr für Jahr verändert. So gibt es immer eine Geschichte davor und noch eine davor und davor dann noch eine. Sie alle wurden in einem Buch festgehalten, damit sie nicht vergessen werden. Wer sie liest, versteht das Leben der Menschen, die vor uns gelebt haben, viel besser. Und plötzlich erkennen wir, wie sich die ganze Welt verändert hat. Die Zeit, in der wir leben, entfaltet sich neu und die Zukunft lässt wieder Hoffnung zu.
Ich verstehe. Du hast meinen Namen geschrieben, damit du mich nicht vergisst. Das ist schön. Dann sind die Jahrbücher deine Geschichten davor und davor? Das Mädchen zeigte auf die Bände im Bücherschrank. Es atmete tief ein und ließ die Luft schnaufend heraus. Da muss ich lange leben, bis ich alles gelesen habe. Bitte kannst du mir deinen Namen auch so aufschreiben, mit Buchstaben in einer Blumenwiese? Das kann ich schneller verstehen und mit nach Hause nehmen. Dann bist du immer bei mir.
Versprochen, sagte die Großmutter. Aber vorher legst du dich zur Siesta hin, damit ich mich in meine Loggia setzen kann. Das Kind protestierte. Das hatte es beim Kindermädchen gelernt. Oma Lo gab nach. Gut, ich erzähl dir was. Sie steckte den Elefantenschwanz in die Steckdose.
Das gläserne Tier leuchtete auf, der Duft von Ambra zog durchs Zimmer. Großmutter und Enkelin legten sich auf das Plüschsofa neben den Kachelofen. Bom-Bam, Bom-Bam. Eins hörte das Herz des anderen.
Sie schliefen ein Weilchen, bis das Kind sich streckte und erwachte. Oma Lo war vom Sofa gerollt, lag am Boden und gab seltsame Geräusche von sich. Das Kind suchte mit den Augen nach Hilfe. Die weise Frau auf dem Bild im Kupferrahmen, Großmutters Hausgöttin hielt ihren Kopf mit beiden Händen. Auf dem Bild daneben grinste ein Ungeheuer und schwang die Sense.
Opa Karl kam eben nach Hause. Er öffnete die Stubentür und rief den Namen seiner Frau. Das Kind wagte einen Blick zum Boden. Was da lag, war nicht Großmutter Lorenza. Es lag wie ein gekrümmtes träges Tier, atmete und stöhnte wie ein Tier. War nur gut, dass das Tier nun verstummte.
Iras Herz schlug hart wie nie vorher. Die schwarze Kammer der Angst öffnete sich weit. Weißgekleidete Männer schleppten das fremde Tier aus dem Zimmer, aus dem Haus. Es würde sich nie wieder in die Großmutter verwandeln.
Karl weinte, Frau Riedel und Friedel weinten. Am anderen Morgen war Papa Gerhard wieder zu Hause. Ira sah ihn nur so lange, wie sie brauchte, sich Jacke und Schuhe anzuziehen. Mama setzte ihr einen Filzhut auf, obwohl die Sonne schien. Umarmte sie und drückte ihr eine Leinentasche in den Arm. Papa nahm sie an die Hand und fuhr mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Vorbei am Großen Garten, an hohen Bürgerhäusern und Ruinen, die mit Goldrute und kleinen grünen Büschen überwachsen waren. Ein einziges Haus stand noch am Hauptbahnhof. Schwarz vor Ruß, als wäre das Feuer erst gestern gelöscht worden. Was steht da dran? fragte Ira. Hotel Excelsior, brummte Papa Gerhard zerstreut. Es ist schon lange kein Hotel mehr, auch wenn das draufsteht. Komm jetzt, wir dürfen den Zug nicht verpassen.
Es war das erste Mal, dass er wir sagte, aber nicht WIR meinte. Er stieg nicht ein. Er erklärte einer älteren Frau mit dicker Tasche und kleinem Koffer, wo das Kind erwartet wurde. Er schien sie zu kennen, denn er reichte ihr Geld durchs Fenster. Er vergaß, sein Kind zu umarmen und holte sein kariertes Taschentuch aus dem Jackett, um sich zu schnäuzen, als der Zug anfuhr. Ira war tief gekränkt und spürte trotzdem ein wenig Mitgefühl. Wahrscheinlich war ihm der fette, schwarze Rauch in die Augen gekommen.
Die beinahe Fremde war eine nette Frau. Wenn man nette Leute mochte. Wenn man nicht so verdammt allein war wie Ira. Sie nannte jede Bahnhofstation schon beim Namen, ehe der Schaffner ihn ausrief. Er trug Uniform, eine blaue aus wolligem Tuch. Eine Schirmmütze. Der Zug ruckelte, zuckelte, ratterte durch Täler und Wälder, kleinere Städte, über hohe Brücken bis nach Chemnitz. Soviel hatte die nette Frau schon in Freiberg verraten. Da hielt der Zug eine halbe Stunde. Es gab Leberwurstbrot aus einer Aluminiumschachtel. Die nette Frau hatte sogar Tee in einer Thermoskanne dabei. Ira spürte Hunger, aber sie schaffte nicht einmal eine halbe Doppelbemme. Die Frau lachte. Bemme sagt ihr also. Ich sage Stulle, andere Leute nennen das Schnitte.
Bei anderer Gelegenheit wäre Ira begeistert gewesen. Für einfache Sachen drei verschiedene Bezeichnungen. Sie wusste selbst nicht, warum ihr das Gespräch keinen Spaß machte. Irgendwann hinter Oederan dann passierte es. Sie begann neugierig zu werden. Ihr Rücken streckte sich, die Beine baumelten, Sie hatte noch nie so lange still gesessen.
Braves Mädchen, sagte die Frau zu Großmutter Frieda, als sie Ira auf dem Bahnsteig übergab. Dann reichte sie Oma EF den Umschlag mit Geld, den ihr Papa Gerhard zugesteckt hatte. Oma EF redete nur ein paar hochdeutsche Sätze, dann zog sie das Kind aus dem Gebäude. Ich muss mal, warte hier, sagte sie vor dem Bahnhofs-WC. Das war zu viel. Das große Mädchen heulte los. Ich will nicht hier sein, ich will nach Hause. Zu spät, die Großmutter schob sie entnervt in eine der WC-Türen und rief der Frau in der Schürze zu, sie würde später zahlen.
Unverschämtheit. Die Frau wollte den doppelten Preis, weil sie das Kind mit hinein genommen hätte. Da konnte sie sich aber was anhören. Eine Toilette, ein Preis. Und damit Schluss. Oma EF ließ sich nicht ausbeuten.
So begann die Zeit mit der Chemnitzer Großmutter. Bisher waren beide nie miteinander allein gewesen. Das schien anfangs kein Problem zu sein.
Friedas Nähmaschine ratterte ab früh um sieben, wenn Opa Kuno aus dem Haus war. Hin und wieder machte die Großmutter eine Zigarettenpause. Vor dem Mittag gingen die Alte und das Kind einkaufen. Lebensmittel, Zwirn und Knöpfe oder auch mal ein paar Straßen weiter in einen Laden, in dem Großmutter Frieda sehr höflich, sehr geduldig bedient wurde. Zwischen Stoffballen wählte Oma EF mal blumigen Blusenbatist, mal dicken Kostümstoff oder irgendeine Futterseide. Dann legte Großmutter nachmittags die Meterware auf den Schneidertisch, der auch zu den Mahlzeiten genutzt wurde. Mit einer langen chromglänzenden Schere schnitt sie Teile zu. Die Reste bekam Ira, die unter dem Tisch mit ihrer Chaoskiste, mit Bändern, Flicken, Resten spielte. Es war nicht langweilig, aber irgendwann hatten sich die Möglichkeiten erschöpft. Alles begann von vorn.
Einzige Abwechslung an Oma EFs Arbeitstagen war der Besuch von Marion, die ältere Enkelin, Schulkind, langbeinig, braune Locken, braune Haare und mit dünner Taille. Sie trug schon Kleider wie aus den Zeitschriften von Großmutter Frieda. Kein Wunder. Frieda nähte immer wieder zwischen größeren Aufträgen ein Jäckchen, einen Faltenrock, ein Sommerkleid mit Punkten. Und Marion war geschickt genug, die fälligen Handarbeiten selber zu erledigen. Dabei erzählte sie der kleinen Cousine, was in der Schule passierte. Teils teils war ihre bevorzugte Redewendung. Das sagte niemand in Dresden.
Mit Herzklopfen hörte Ira zu. Und wenn Marion nicht gerade Knöpfe annähte, die Abendsuppe umrührte oder Großvater Kuno zur Hand ging, wenn er ihr Fahrrad reparierte, zeigte sie schon mal ein paar Buchstaben in Schreibschrift. Was Ira grenzenlos bewunderte. So schnell füllte sich eine Seite mit fließenden Mustern, wenn Marion Hausaufgaben machte. Nach der Abendsuppe fuhr die Cousine auf dem klappernden Fahrrad nach Hause zu ihrer Mutter Hertha. Ungern, aber die Schule begann halb acht in der Früh und lag näher an der Wohnung der beiden.
Manchmal schaute eine Nachbarin vorbei, mal brachte Frieda mit Ira Flickwäsche zu einer Kundin. Aber immer noch verging die Zeit nicht schneller als die Nacht in der winzigen Kammer. Sie lag zwei Etagen über der Wohnung der Großeltern im Dachgeschoss, hatte nur ein kleines rundes Fenster und wenig Luft zum Atmen. Oder lag es daran, dass im Zimmerchen kein Lichtschalter existierte und Oma die Taschenlampe des Großvaters nach den Gutenachtgruß wieder mitnahm? Kein Licht, keine Umarmung, kein Ursele mit seinen Schnarchtönen und dem Gebabbel im Schlaf. Irgendwann gewöhnte sich Ira an die Dunkelheit. Keine Gespenster, keine Geräusche vor der Tür oder im Haus. Niemand konnte ewig wach bleiben. Bald kamen die finsteren Träume. Aber niemand wollte sie am Morgen hören.
Manchmal besuchten Kundinnen Oma Frieda zu Haus. Es roch nach Bohnenkaffee, und die Großmutter sprach hochdeutsch. Die Damen wurden in die winzige Wohnstube neben der Wohnküche und Schneiderwerkstatt gebeten, damit sie die Bluse, die Jacke, das Kostüm anprobieren. Anprobieren hieß auch, dass eine Dame auf einen Schemel stieg und Großmutter auf die Knie ging, um den Rock, das Kleid oder die Mantellänge mit Nadeln festzustecken. Danach wurde Kaffee getrunken und in Modejournalen geblättert.
Diese hatten bevorzugte Kundinnen mitgebracht. Aus Berlin, woher auch der Kaffee stammte. Das war Ira neu. Wie manches an diesen Kundinnen. Eine packte Stoffe aus, die wie ein Mädchenname klangen. Musselin, Georgette. Aber noch interessanter war der Rotfuchs, den sie über dem Kragen trug. Die gläsernen Augen funkelten Ira an, sie kroch unter den Tisch. Natürlich war er tot, aber warum wurde er dann auf einem Sommermantel herumgetragen?
Komm hoch, Ira. Das gehört sich nicht. Gib der Dame die Hand und mach einen Knicks. Mein Gott, warum bringt dir deine Mutter keine Manieren bei? Ich bitte um Entschuldigung, dieses Kind lebt erst seit ein paar Tagen bei mir.
Ira gewöhnte sich daran, dass man über ihren Kopf hin sprach, als wäre sie nicht im selben Raum. Wenn die Großmutter auf die Knie ging, konnte sie auch ein Knie beugen. Marion zeigte ihr, wie man das macht. Gute Manieren, meinte die Cousine. Wozu? fragte Ira. Fragen wie diese beantwortete nicht einmal Großvater Kuno. Er zuckte nur mit den Schultern. Er sprach überhaupt nicht viel.
Dafür redete Großmutter mit ihren Nachbarinnen um so mehr. Die trafen regelmäßig ein, wenn sich eine der Berliner Damen verabschiedet hatten. Der Duft des Kaffees schien sie anzuziehen. Mal kauften sie etwas von den Päckchen ab, mal brachten sie Blechkuchen mit. Meist verdünnten sie das schwarze Gebräu mit Gerstenkaffee, damit es für alle reichte.
Die interessanteste unter den Nachbarinnen war Frau Brettel, ständig in Rosa und Grau gekleidet, mit weißblonden Löckchen unter dem Hut. Sie trug als Einzige eine Kette und Ohrringe mit Perlen. In beinahe jedem dritten Satz trällerte sie: mein Gott, ach Gott, du liebes Gottchen. Sie zeigte immer wieder Ira, wie sie zu beten habe. Heimlich, wenn Frieda zu beschäftigt war. Vater unser ich bin klein, mein Herz ist rein. Auch in der Kaffeerunde die Anni, kaum noch ein Haar auf dem Schädel, mit ihrem Hörrohr aus Messing. Dann flogen die flotten Sprüche durch Oma EFs Wohnküche, brüllten die alten Frauen, dass dem Kind die Ohren schmerzten. Selbst dann, wenn es unterm Tisch saß. Also kletterte es aufs Fensterbrett und blickte in den Regen. Beobachtete die Katze, die mit einem Sperling spielte.
Der Vogel flatterte noch einige Zeit, dann blieb er liegen. Ein Blut-Rotkehlchen. Die Katze schob ihn mit der Pfote hin und her, zog sich gelangweilt hinter die Sträucher zurück.
Er ist tot, heulte Ira los. Die Frauen konnten sie nicht beruhigen. Katzen fressen Vögel. Das ist ihre Natur, erklärt Oma EF entschieden.
Sie haben gespielt, widersprach Ira. Sie haben gespielt und der Sperling hat sich verwandelt. Wir müssen das richtige Wort finden, damit er wieder lebendig wird. Wenn wir nicht das richtige Wort finden, sterben wir bald alle.
Du redest dummes Zeug, sagte die alte Frau. Warum sollten wir sterben?
Was brüllst du so vom Sterben, beschwerte sich Anni. Ich mag das nicht, Frieda.
Frieda nahm das Kind vom Fensterbrett und stellte es auf die gescheuerten Dielen. Die Knie knickten ein. Es war kein Knicks. Hoch mit dir und mach kein Theater vor meinem Besuch, Ira. Bist doch ein großes Mädchen.
Aber Ira ließ sich nicht beruhigen. Wir brauchen das Wort, damit wir nicht sterben. Damit wir uns wieder verwandeln können in richtige Menschen.
Ist sie meschugge oder was, weil ihr Vater Jude ist? fragte Anni laut und deutlich.
Beruhige dich Kleines, lenkte Frau Brettel ein, der Krieg ist, Gott sei gedankt, vorbei und wir leben noch.
Aber was ist mit der Atombombe? Menschen verwandeln sich. Das steht in den Zeitungen.
Du und Zeitungen. Seit wann kannst du lesen?
Manchmal schon. Seit ich – weiß nicht wann. Es ist so gekommen. Ich kann nicht sagen wie.
Zu viel Fantasie, das Kind, sagte Frieda kopfschüttelnd. Mädchen die pfeifen und Hühner die krähen, den muss man beizeiten die Hälser umdrehen.
Da konnte die Nachbarinnen nur zustimmen.
Ira hatte Ohrenschmerzen, Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Herzschmerzen. Fieber auch. Also doch meschugge, sagte Oma EF.
Ira war vor einigen Monaten schon einmal krank gewesen. Damals saß Oma Lo am Bett. Immerhin packte Frieda die Enkelin auf das Plüschsofa in der winzigen Wohnstube und ließ die Tür offen. Ihre Maschine musste weiter rattern. Am Wochenende kam Friedel, ihre Tochter holen. Das Fieber war weg, der Hals noch dick. Dein Kind hat nur Heimweh, meinte Frieda. Das Heimweh heißt Angina, behauptete Friedel.
Zu viel Fantasie und kein Benehmen, widersprach Frieda ihrer Tochter. Redet vom Sterben als wüsste sie, wovon sie redet. Und das, wenn Erwachsene sich unterhalten.
Mein Kind ist sechs Jahre alt und hat schon mehr vom Tod gesehen als ich in diesem Alter. Wir brauchen nur zum Chemnitzer Bahnhof fahren und im Hauptbahnhof in Dresden aussteigen. Hier wie da sehen wir mehr Ruinen als bewohnte Häuser. Seit sie laufen kann, stolpert sie über diesen Krieg.
Genau das meine ich. Frieda unterbrach ihre Tochter. Kann nicht einmal einen Knopf annähen, hat zwei linke Hände, aber redet kommunistisch. Ihr solltet im Beisein eurer Kinder nicht von Politik reden. Kindheit bleibt Kindheit. Du warst selber immer altklug, unbelehrbar und wusstest alles besser.
Seit wann hast du was gegen Kommunisten? Wie sind wir denn groß geworden? Konntest du uns von Politik fernhalten? Konntest du uns vor irgend etwas bewahren? Deine Sprüche sind von gestern. Meine Tochter wird noch lernen, ihren Kopf und die Hände zu gebrauchen. Wird ihre eigenen Pläne machen. Geschichte studieren, Sprachen lernen. Alles, wozu wir keine Zeit hatten. Meine Tochter kann so viel Fantasie haben wie sie will. Ihren Verstand gebraucht sie schon jetzt besser als du.
Dann flog die Küchentür ins Schloss und Friedel fuhr mit ihrer Ira zurück nach Hause.
Aber das Zuhause hatte sich verändert. Das Ungeheuer mit der Sense ein Loch in die Zeit gerissen. Es verschlang Tage, Wochen, Monate. Manchmal, nachts schrie es aus dem Loch: Vergiss mich nicht!
Da war noch der Satz, den der Großvater in seinem Entsetzen laut gerufen hatte. Was hast du mit deiner Oma Lorenza gemacht? Das Kind vergaß den Satz so wenig wie die Großmutter. Vielleicht hatte es im Traum ein falsches Wort zu ihr gesagt, dass sie sich in ein Tier verwandelte. Wie im Märchen von Kalif Storch. Und wie heiß der Gegenzauber, dieses Wort, das der Kalif vergaß?
Ira suchte unter den Büchern, die im dreitürigen Schrank standen. Was in Geschichten passierte, sollte auch im Alltag möglich sein. Aber sie konnte nicht einmal die altertümliche Schrift auf den Bucheinbänden entziffern. Es würde ihr nicht gelingen, die Großmutter zurückzuholen in ihre rundliche, weiche Gestalt mit den wolligen Kleidern. Wozu waren noch die vielen Bücher gut? Warum lügen sich Erwachsene ein glückliches Ende und das Blaue vom Himmel herbei, wenn die Welt um sie herum so offensichtlich schön wie grausam ist? Warum erzählen Bücherschreiber nicht einfach, was ihnen wirklich passierte? Sie alle hatten eine Geschichte davor, eine die in einem schwarzen Loch verschwand. Es war so unglaublich wichtig, um wirklich zu verstehen, warum ein einziges Wort zu Großmutter kam und sie in ein Tier verwandelte. Ein Wort wie ein Loch, das einen Menschen für immer verschwinden lässt. Was bleibt dann noch Was bleibt dann noch vom Paradies der Wörter?