Lost in Schabernack

Lost in Schabernack gehört zu einer Sammlung von zehn kürzeren und längeren Erzählungen, die die jeweiligen historischen Schwellen zu einem neuen Verständnis von Beziehungen beschreiben. Es sind Liebesgeschichten der unterschiedlichsten Art, ein Versuch, den Ursprung unserer inneren Sehnsucht zu beschreiben.

… und wenn ja, wie viele?

R.D.Precht

Act 1

Sechs oder sieben Jahre waren vergangen, dass er die Akte Chaleb aufgerufen hatte. Basto Sprenger musste googeln. Der Ort lag weit unten im Osten, im Grenzeck zu Polen und der Tschechei. Damals hatte er das Nest selbst ausgewählt, um die Spur zu wechseln, war auf dem Weg zu einem anderen Ortstermin drei Monate später noch einmal vorbeigefahren. Ein Gesicht blieb in Erinnerung. Sanft, ernst, eigen, fast noch Kind.
Was wusste er schon. Damals war er selber erst am Anfang der jugendlichen Dreißiger, wurde zum ersten mal befördert. Er räumte sein Revier auf. In vier Jahren siebenundvierzig Fälle, die er persönlich betreute. Amira Chaleb war sein erster gewesen. Die Zentrale schickte zwei Einsatzkräfte pro Person, mit einen undurchschaubaren Apparat im Hintergrund. Sein Lehrer und Partner ging bald darauf in Pension.
Basto Sprenger hatte seiner Frau zuliebe nach längerem ISAF-Einsatz in die Beamtenlaufbahn gewechselt. Gerade noch rechtzeitig, ehe in Afghanistan die hässlichen Dinge passierten. War vorher schon dreckig genug. Das Eigenheim fast abbezahlt, sie wollte endlich Kinder haben. Als der Sohn geboren wurde, ging die Ehe unwiderruflich zu Ende. Sie hatte einen Gartenzaun um sein und ihr Eheleben gebaut. Es wurde ihm zu eng.
Das war 2012, während er die Abteilung wechselte. Von da an gab er Maßnahmen vor, regelte eher vom Schreibtisch aus, was die untersten Chargen auszuführen hatten.

Im Fall Chaleb ahnte er noch nichts von der Vergeblichkeit seiner Arbeit, denn selten führte sie in ein erfreuliches Ende. Amira sollte eine dieser Ausnahmen bleiben. Sprenger erinnerte sich ziemlich präzise an ihre erste Begegnung in der Klinik, an ihre verklebten Haare unter dem Kopfverband, an das runde Gesicht, die Blicke, die durch den Raum irrten. Drei Tage, nachdem man Kugeln operativ aus dem Körper entfernt hatte und die Schädelverletzung, zu ihrem Glück ein Streifschuss, ein Gespräch zuließ. Sein Gruppenführer und Lehrer Horst Bieger setzte sich auf die Bettkante und ergriff vorsichtig die Hand mit dem Infusionsschlauch. Was sie verschreckte. Sie ließ die andere unter der Bettdecken verschwinden. Bieger sprach leise und vertraut, als wäre er ein lieber Onkel.
Amiras Onkel waren tot. Zumindest die zwei, von denen die Zentrale wusste. Bei einem Überfall in Neukölln durch einen anderen libanesischen Clan umgekommen. So, wie Amiras Vater und der ältere Bruder. Im eigenen Haus.

Die Chaleb-Sippe, maronitische Christen aus dem Norden, war nach dem Libanonkrieg eingewandert. Mira, wie man sie rief, wurde in Berlin geboren. Ihre Mutter kam in dieser Stadt, in diesem Land nicht zurecht. Sie erlebte nicht einmal die Schuleinführung ihrer Kleinen. Man kann auch an Heimweh sterben.
Der Tod des Vaters hatte rein kommerzielle Gründe. Er und seine Brüder betrieben einige ehrbare Imbissstuben, gründeten danach erst ein, dann zwei, drei Restaurants. Sie waren Genüssen aller Art sehr zugetan. Das Berlin der 90er Jahre bestärkte sie im Handel mit nicht legalen Substanzen.
Währenddessen wuchs Mira im wachsenden Wohlstand bei einer fröhlichen, einfallsreichen Stiefmutter heran. Auch Sahar Chaleb geriet in den Kugelhagel. Eher zufällig, scheinbar schwer verletzt, doch der Schütze hatte aus anderen Gründen auf sie gezielt, als auf ihren handelstüchtigen Ehemann. Er hätte sie gern als Mitwisserin aus dem Weg. Die Verletzung war leichter als vermutet, es sollte vielleicht nur ein Warnschuss sein.

In der Akte Amira Chaleb war das Szenario exakt beschrieben. Das elegante, wenn auch für europäischen Geschmack barock eingerichtete Wohnhaus, die Lage der Leichen, der Standort der Stiefmutter, die Stelle hinter der Schiebetür, wo sich Mira befand, als die Schießerei begann. Dummerweise wollte sie aus Neugier eben diese Tür öffnen.
Dennoch ein günstiger Umstand, denn die Kugeln trafen eher zufällig und die Angreifer ließen sie unter den Leichen liegen, durchsuchten das Haus, töteten die Köchin und einen Fahrer der Chalebs mit Kopfschuss. Miras Verletzungen hätten ebenfalls tödlich sein können. Der eine Schuss traf den Lungenflügel unterhalb der Brustwarze und steckte fest, das andere Projektil zersplitterte eine Rippe und ließ sich leichter entfernen. Ihr Kopf schwamm im Blut. Sie kam rechtzeitig in eine naheliegende, ausgezeichnete Klinik. Drei Tage später sollte sie erste Angaben zum Überfall machen. Nach einer weiteren Woche war sie bereit, gegen den Hanef-Clan auszusagen.

Eine unschuldige Kronzeugin, die mit neunzehn weder in die Geschäfte noch in die Kämpfe verwickelt war, aber wach genug, das Unternehmen des Vaters zu durchschauen. Und nicht weniger aufmerksam, die Gefährlichkeit der Gegner zu erkennen. Mira war Abiturbeste an ihrem Gymnasium gewesen, Studentin der Medizin im ersten Semester, verlobt mit einem libanesischen Jurastudenten, dem einzigen Sohn des Chaleb-Anwalts.
Bis zur Verhandlung brachten Horst Bieger und Basto Sprenger das Mädchen in einer Stadt in Hessen unter, überschaubar genug und beinahe homogen deutsch besiedelt. Italiener aus Frankfurt betrieben dort eine Eisdiele und ein beliebtes Restaurant. Mira verkaufte als Maria Kahlert, Tochter einer Italienerin und eines Deutschen Pistazieneis, Stracciatella, Vanille, Zitrone und Erdbeere. Im Bella Napoli erlernte sie den Beruf einer Köchin, was ihr zunehmend gefiel.
Als der Prozess gegen die Hanef-Bande seinen Abschluss fand, war Mira-Maria beinahe in Sicherheit.
Auch die Italiener kannten die Blutrache. Doch ihre Anpassungsfähigkeit an einheimische Regeln hatte sich im allgemeinen weiter entwickelt. Ähnlich die Griechen, Spanier, Portugiesen. Die anderen Völker rund ums Mittelmeer pflegten immer noch einige uralte Bräuche, die sie wie ein teures Erbstück in die Fremde mitnahmen. Das gab Basto Sprenger Jahre später schwer zu denken. 2012 wurden der letzte Berufungsantrag abgewiesen, alle Urteile waren rechtskräftig bestätigt, die Lage schien sich beruhigt zu haben, dennoch hielt Sprenger es für angebracht, beim Aufräumen seiner alten Fälle eine weitere Spur für Mira zu legen, die nicht mehr so schlicht zurück verfolgt werden konnte wie die von Bieger nach Hessen. Haken schlagen, hatte Horst seinem jungen Kollegen oft geraten.

Basto fuhr in die Eifel und übergab Maria Kahlert einen Pass, eine neue Legende und das dazu gehörende Equipment. Drei Tage lang präparierte er sie auf Marina Kallweit, ebenfalls 23, allerdings Ende Mai geboren, gelernte Gastronomin, aus der Familie eines Italieners stammend, auf einen Neuanfang im Osten aus. Laut Anzeige in der Lokalpresse brauchte der Lindenhof in Schabernack eine Köchin.
Seine Lektionen erteilte Sprenger Amira-Maria-Marina in den späten Abendstunden, nachdem der Patrone sie aus seiner Küche entließ. Wenn sie sich in ihrem Zimmer trafen, trug sie noch den Herdkittel, ein Tuch straff um den Kopf gewickelt, roch nach frischem Salat. Sie wohnte zwei Stockwerk über dem Napoli, schien zufrieden mit dem, was ihr geblieben war. Die Dreiundzwanzigjährige sah immer noch aus, wie von der Schulbank ins Leben gestoßen, verhielt sich diszipliniert, lernte schnell. Ging fraglos in eine andere Geschichte über.
Wenn sich einer nicht über die Disziplin der Klientin wunderte, war das Sprenger. Er kannte die Familiengeschichte, hatte die Tatortfotos gesehen.
Basto Sprenger entwickelte wasserdichte Legenden, sorgte auch für seine Fälle. Er prüfte nach einem Vierteljahr unangemeldet die Lage vor Ort, blieb nur eine Stunde. Marina hatte sich zur Zufriedenheit aller in das Lausitzer Dorf eingelebt. Das war sein letzter Akt zum ersten Zeugenschutzprogramm in seiner Karriere.
Wenn er zehn Jahre nach dem beurkundeten Tod einer Amira Chaleb im Berliner Vivantes-Krankenhaus, sechs Jahre nach Ende des letzten Prozesses gegen den Hanef-Clan die alte Akte aufrief, dann nur, weil einer der Mittäter gute Aussicht hatte, vorfristig aus der Haft entlassen zu werden.
Nassar Hanef war der jüngste Bruder des Hauptangeklagten und fuhr den Fluchtwagen. Mira hatte ihn nicht zu Gesicht bekommen, als sie zu Boden ging, er sie schon. Seine Waffe wurde nicht gefunden, damit war kein Kugelabgleich möglich. Er konnte durch Nachbarn belastet werden, die ihn mit einem Revolver aus dem Haus kommen sahen. Das genügte dem Richter nicht für eine längere Strafe.
Nassar wurde dennoch zu zehn Jahren verurteilt, als Beteiligter an einem schweren Raubüberfall und wegen Drogenhandels. Wegen guter Führung könnte man in diesem Sommer seinem zweiten Antrag auf vorzeitige Haftentlassung zustimmen. Ehrensache, dass er sich auf die Suche nach der Kronzeugin macht, die seine halbe Familie verpfiffen hatte. Es gab noch Verwandte in Berlin, die eben deshalb auf ihn warteten.

Zehn Jahre, ein erfolgreiches Programm und Sprenger hätte sich zurücklehnen können. Er wurde demnächst achtunddreißig, hatte sich vom Unteroffizier zum respektierten Beamten einer Abteilung von exzellent ausgebildeten Männern hochgearbeitet, persönlich vielen Menschen ein neues, selten ein glückliches Leben verschafft. Kaum zu zählen die vielen Anderen, deren Akten durch seine Hände gingen. Amira durfte nicht zu denen gehören, die am Ende verloren gingen. Denn das passierte öfter, als die Behörde zugeben wollte.

Als Sprenger zufällig die Information über Hanefs Antrag entdeckte, suchte er ihre alte Akte und machte sich ein aktuelles Bild. Das war ihm im Laufe seiner Karriere immer wichtiger geworden. Nie nur auf diesen einen Fall konzentrieren, ringsum Verbindungen zu anderen Personen und ihren Vergehen und Verbrechen suchen, das größere Spektrum in allen Farben betrachten. Und siehe da. Miras Stiefmutter war nicht nur von ihrer scheinbar schweren Verletzung genesen, sie hatte ein Jahr danach einen Aslan Hanef geheiratet. Aslan war zwanzig Jahre jünger als Chaleb, der selbe Jahrgang wie die Frau, die überlebte. Das könnte darauf hindeuten, dass sie ihren Mann verraten hatte.
Sprenger war sich nicht mehr sicher, ob Mira-Marina sich wirklich an die Regeln hielt. Falls sie irgendwann ein Lebenszeichen an ihre Stiefmutter gesendet hatte, war sie in extremer Gefahr.

Basto fühlte sich in der Kraft seiner Jahre und dennoch nicht zufrieden. Vielleicht holte ihn die Routine am Schreibtisch ein, auch möglich, dass er nach der Scheidung sein Kind vermisste, weniger seine Frau. Sie hatte sich mit einem anderen zusammengetan. Er war ebenfalls wieder liiert und froh darüber, dass Jette keine Erwartungen an seinen Lebensstil oder seine Gehaltsgruppe stellte. Doch manchmal ging ihm auf den Geist, wie selbstverständlich sie ihre Reisen im In- und Ausland plante, ohne mit ihm darüber zu reden. War er unterwegs, arbeitete sie daheim. Hatte er sich Aufgaben gesucht, um bei ihr zu sein, übernahm sie einen Auftrag zwischen Athen und Lissabon.
Nach dem Scheitern seiner Ehe wählte er unbewusst das Gegenstück zu seiner ersten Frau, das Mittelstandsmädchen, das sich selbst verwirklichte, indem es von den Mühen anderer profitierte, stets ein fertiges Nest brauchte, statt eins zu bauen. Im Grunde verband Jette nichts mit dem Mann an ihrer Seite, bis auf Tisch und Bett, die sie teilten. Falls sie einander mal trafen. Henriettes Ruhelosigkeit riss ein Loch in sein Liebesleben. Sie führte Basto vor, wie er selbst als Soldat gelebt hatte.

Zu Zeit war die Korrespondentin Bosch in Südspanien unterwegs. Wieder das Flüchtlingsthema, die offenen Grenzen, die Lager, die tragischen Schicksale der Migranten. Anfangs hatte er mit ihr noch über die Schattenseiten gestritten. Barbarische Riten, vernetzte Sippen, die keinerlei Absicht zeigten, sich zu integrieren. Und die Rudel junger Männer, die auf der Flucht durch Krieg und Hunger, durch Schleuserorganisationen und in Lagern skrupellos ihre Überlebensstrategien mit der Macht des Stärkeren in die Tat umsetzten. Darüber berichtete niemand, denn auch vom eigenen Bürger wurden Pflichten nicht eingefordert. Um so heftiger stritt man um die Rechte.
Integration gelang den Zugewanderten, die aus liberalen Familien kamen, sich auf Ausbildung oder Studium konzentrierten oder sich mit Einheimischen verheirateten. Jette fand die alltäglichen Erfolgsgeschichten nicht aufregend genug.
Inzwischen war ihm egal, womit sie ihr Honorar verdiente. Er hielt sich an seinem Schreibtisch schadlos, entwarf Lebenskonzepte für andere und zweifelte auch nicht, ob er das Richtige tat. Nur manchmal schreckte er auf. Wie im Fall Amira Chaleb.
Sprenger grübelte, warum er im Melderegister vergebens nach einer Marina Kahlert suchte, bis ihm einfiel, dass er selbst Amiras aktuellen Pass auf Kallweit eintragen ließ. Und richtig, sie war noch in diesem abseitigen Ort Schabernack gemeldet. Hatte er völlig verdrängt. Im Gewerberegister tauchte der Name Kallweit als Friseuse auf. Seltsamer Abstieg. Sie war mal Abiturbeste, Medizinstudentin gewesen. Sie kochte so gern.

Niemand konnte Basto Sprenger zu viel Neugier nachsagen. Ein Beamter mit maßvoller Eigeninitiative, ein Befehlsempfänger mit der Fähigkeit, solide Zeugenschutzprogramme zu erstellen. Etwas Kreativität gehörte dazu. Ohne sie wäre er fehl am Platz. Er hatte sich lange nicht mehr bewegt, brach die Suche im Computer ab und packte ein paar Unterlagen in seine Tasche.
Henriette wieder nicht im Land, der Junge in den Ferien in Dänemark. Das Berufungsverfahren für Nassar, die Stiefmutter mit Hanef verheiratet, da lief was außer Kontrolle. Basto Sprenger nahm sich Urlaub, fuhr nach Schabernack.

Act 2
Eine ideale Landschaft für die Fahrt ins Blaue. Ein milder Luftzug zwischen Scheibe und Heck. Wechselnde Hügel und Wälder, Äcker kurz vor der Ernte, die Straßen für seinen alten Opel Diplomat durchaus gut in Schuss. Er fuhr über Bautzen und Löbau, gönnte sich eine Pause an einem See, um kurz ins Wasser zu tauchen. Das Freibad und die kleine Gaststätte am Ufer war alles andere als überfüllt. In Sachsen begannen die Sommerferien erst kommende Woche.
Basto aß Frische Forelle auf Petersilienkartoffeln mit Zitonenbechamel. Die anderen Speisen klangen besser, hätten ihm jedoch bei diesem Wetter zu schwer im Magen gelegen. Auf dem Spielplatz am Biergarten Kinder, die zu den wenigen Gästen gehörten. Basto fragte sich, ob auch Mira-Marina inzwischen Mann und was Kleines hatte. Heutzutage behielten viele Frauen ihren Nachnamen. Zur Familie würde Friseuse passen. Eigenständiger als eine Köchin in der Dorfkneipe, Vorteile bei der Zeiteinteilung. Die Kinder konnte er sich vorstellen, einen Ehemann nicht.

Mira war ihm sehr speziell in Erinnerung. Scheu, fast pedantisch darauf bedacht, alles richtig zu machen. Folgerichtig, wenn sie in einem orthodoxen Haushalt von ausgewachsenen, militanten Männern aufwuchs, die Stiefmutter viel zu jung war, um die volle Verantwortung zu übernehmen. Anpassungsfähig war das Mädchen, aber immer auf Distanz. Doch irgendwann fand jeder Topf mal seinen Deckel.

Die letzte Strecke legte Sprenger auf weniger gepflegten Landstraßen zurück. Hier gab es keine Industriestandorte, die für asphaltierte Wege sorgten. Wald und Wiesen weiteten sich aus, die Hügel rückten in die Ferne. An einem Abzweig zeigte das schwarz-gelbe Ortsschild Schabernack an. Dahinter begann ein sogenanntes Straßendorf, langgestreckt wie eine alte Blindschleiche in der Hitze des Nachmittags, auf einem ehemaligen Handelsweg nach Schlesien.
Vier Minuten später erreichte Sprenger den Dorfkern mit Rathaus und Kirche, Gaststätte und zwei winzigen Läden. Er beschloss, seinen Opel am Lindenhof zu parken und nach Marina Kallweit zu fragen. Immerhin hatte er selbst sie hier einmal angestellt.

In der Dorfgaststätte waren die Stühle hochgestellt. Niemand wollte mitten in der Woche vor Sonnenuntergang ein kühles Bier trinken oder eine Suppe löffeln. Die kleine Frau schüttelte den Kopf. Sie sprach nur gebrochen deutsch und wischte eben den Boden.
Basto trat auf den Vorplatz, suchte die Fassaden ab und beschloss, im Rathaus nachzufragen. Ein großes Wort für ein einstöckiges Gebäude mit Türmchen, das sich auf dem zweiten Blick als Abzug mit Windfang für Kohleheizung enttarnte. Immerhin aus dem Jahr 1899, wie der Schlussstein über der Tür anzeigte.
Er drehte sich um neunzig Grad und bemerkte der Kirche gegenüber ein Fachwerkhaus, eine Bäckerei und ein Häuschen. Ein bescheidenes Schaufenster, offenbar ein Kosmetikladen. Mittendrin eine Büste mit blonder Windstoß-Frisur vor Werbeplakaten für Margaret Astor und L´Oreal. Inhaberin Marina Kallweit.
Basto atmete auf. Die Kirchturmuhr zeigte Viertel nach drei, er war schon zu lange in der Provinz herumgeirrt. Eigentlich wäre er abends gern bis Dresden gekommen. In den folgenden Tagen weiter nach Prag, vielleicht auch bis Warschau. Zwei Wochen in Großstadt-Bars und Jazzkneipen. Jette Postkarten schicken. Wie du mir, so ich dir. Und Tschüss.

Die Türklingel gab einen Dreierton. Der Laden war bis auf Deckenhöhe blau getönt. Eine Bordüre begrenzte die Tapete weiß, blau und golden mit maurischen Ornamenten. Rechts befand sich ein Verkaufstresen. Dahinter blinkerten in einer Glasvitrine Kosmetikprodukte aller Art. An der linken Seite auf einem türkischen Polyesterteppich eine kleine Sitzgruppe. Intarsien-Tischchen, Bambussessel, darüber ein Plakat der Emirates Airline.
Palmenstrand mit Wolkenkratzern und azurblauem Hintergrund. ERLEBEN SIE DUBAI. Traumziel aller Dorfbewohner?
Der Durchgang zu den hinteren Räumen besaß statt der Tür einen Rundbogen, der das orientalische Flair mit einem ins Meergrün spielenden Perlenvorhang vervollständigte. Jemand schob die Perlenstränge beiseite, da stand sie schon: Marina. Auch für eine Italienerin in Deutschland etwas exzentrisch. Errötete, als sie ihn sah.