Nebelfluss

Vasna I. Trupis
2024 Ultraviolett Verlag

Gitta Jagodas erster Fall

Prolog

Liebe, liebe Nana, Falls ich nicht
endgültig verrückt geworden bin,
habe ich vor eine Stunde
Käpt´n Blaubart gesehen!
Mich kriegt er nicht mehr in seine
bescheuerte Kajüte.
Komm 20 Uhr in den Schaupalast
+ sieh Dir mit mir „Die Träumer“ an.
Kuss Yvy

1 Im B-Raum

Kriminalkommissarin Jagoda, verließ als Erste den Tatort. Der Dunst nach Ölfarben und Alkohol, altem Holz und Zement drückte auf die Bronchien. In ihrem Kopf trieben Bilder und Gedanken wie Müll auf dem Hochwasser der Elbe. Sie brauchte frische Luft und einen Ort zum Sortieren. Im Hof stand unter einem Nussbaum eine solide, fast neue Bank. Geschliffenes Holz, verfugte Bretter, rund gezogene Rücken- und Armlehnen. Inmitten alter Mauern ein Neuling, ein Fremdkörper, aber vielversprechend. Gitta Jagoda nahm erleichtert Platz.
Ihre Kollegen waren ihr aus dem Dämmerlicht des Hinterhauses gefolgt. Noch ehe er die Bank erreichte, zog Oberkommissar Brauhaus eine zerknautschte Zigarettenschachtel aus seinem Blouson. Als Letzter ließ sich Hauptkommissar Mandel, der Gruppenleiter nieder. Sein exotisches Aftershave stieg Gitta in die Nase, nicht unangenehm, eher ungewöhnlich. Sie fragte sich, ob Duftstoffe einen Tatort kontaminieren konnten.
Die drei von der Schießgasse, Sitz des Polizeipräsidiums, hatten den Blick auf das Vorderhaus frei, ungestört von einigen Hausbewohnern, die sich am Fahrrad-Schuppen versammelten. Sie beobachteten die Kriminalisten.
Felix Brauhaus, von Insidern Fix genannt, steckte die erste Zigarette des Tages zwischen die dicken Lippen.

So was hat das Mädchen nicht selber gemacht. Ich meine nicht nur den Knoten, setzte er hinzu, ehe er das billige Feuerzeug klicken ließ. Er glaubte, wenn er wieder raucht, würde er auf die gleiche Weise abspecken, wie er seit Wochen zunahm, hatte mit seinem Laster aufgehört, als er vor einem Brandopfer in Prohlis stand. Wie so vieles, ließ sich sogar eine verkohlte Leiche vergessen. Jetzt war jetzt, ein Dienstag mitten im Juni.
Hat jemand schon einmal eine Strangulation so was genannt? empörte sich Gitta. Ich kannte die Tote. Sie war kein Mädchen mehr. Sie war eine junge, lebhafte Frau. Vor drei Tagen habe ich sie im Schaupalast am Tresen stehen sehen. Spätvorstellung mit den „Träumern“. Der Regisseur hat mal gesagt: Ein Film zeigt den Tod bei der Arbeit.
Gitta sprach nicht laut, eher wütend und wurde mit jedem Wort leiser. Jaro Mandel blickte kurz auf. Das war ihm neu. Jagoda ein Kinofan. Er versuchte sie zu beruhigen.
Halt mehr Abstand, Gitta! Bertolucci mag Recht haben, aber aus unserem Film kommen wir nicht mehr raus. Und wenn der zu Ende geht, kommt der nächste. Auch ich sehe keinen Hinweis auf Suizid, im Gegenteil, einige Spuren von Fremdeinwirkung. Das mit dem Knoten klären wir noch.
Mandel suchte nach einem Muster in seinen Gedanken. Bei einer Tatort-Besichtigung war er selten bereit, sich auf der Stelle mitzuteilen. Er kramte in der Jacketttasche und hatte es endlich in der Hand, sein iPhone.
Fix Brauhaus rubbelte sich die kurze Nase und schaute den Chef von der Seite her an. Wir klären das noch, hieß so viel wie: Das soll Brauhaus machen.
Er selbst nahm seine Partnerin vor anderen gern aus der Schusslinie. Warum auch der Gruppenleiter sie vor Kollegen verschonte, ging ihm nicht auf.

Die Leute am Fahrradschuppen wurden ungehalten, drehten sich zur Bank unter dem Nussbaum, als erwarteten sie von den Kriminalisten eine sofortige Aufklärung. Jaro Mandel schloss die Augen, konzentrierte sich, tippte auf Audioaufnahme.
Dienstag, vierundzwanzigster Juni, acht Uhr vierundfünfzig. Anlass der Ermittlung ist ein Anruf von einer Sibylle Frost, eingegangen acht Uhr drei in der Dienststelle Schießgasse, wegen Suizids einer weiblichen Person durch Erhängen. Angegebene Adresse: Kamenzer Straße neunundsechzig, betrifft Hinterhaus, Erdgeschoss links. Eine zu Ateliers ausgebaute Werkstatt. Leichenfund im …
Mandel blickte Jagoda fragend an. Gitta, Mitte dreißig, gerade so im Body-Maß-Index, wenn sie regelmäßig trainierte, hatte die beste Raumorientierung und formulierte schnell und schlagfertig. Sie ergänzte: Bildhauerraum, Fenster nach Westen. Mittlerer Trägerbalken, kleiner Flaschenzug, offenbar zum Anheben von schweren Teilen, Steinen, Plastiken und so weiter.
Mandel verkürzte die Aufzählung beim Wiederholen, (Wozu gab es schließlich Fotoaufnahmen?), und setzte seinen Monolog fort.
Die Tote war der Anruferin bekannt und wurde als Yvonne Eberlein notiert. Eintreffen in der Kamenzer neunundsechzig um acht Uhr fünfunddreißig. Nach eingehender Besichtigung des Tatortes mit der Pathologin, Frau Dr. Jana Katz Übergabe an die Spurensicherung mit Oberkommissar Henning Helbig um acht Uhr fünfzig.
In einer Damenumhängetasche wurden Papiere gefunden, auf einem Sofa im so genannten Maleratelier. Wir stellten fest: Personalausweis, Karte der Krankenkasse, Führerschein bestätigen die Angabe der Anruferin, dass es sich um die genannte Eberlein handelt. Eine Straftat ist wahrscheinlich.
Eindeutige Anzeichen für die Anwesenheit anderer Personen sind Überreste einer Mahlzeit im Maleratelier, ein zerbrochener Stuhl, umher geworfene Kissen und Decken, schwache, teils verwischte Schleifspuren auf dem Fußboden Richtung Bildhauerraum. Der Körper hängt cirka 50 cm über dem Fußboden. Unmittelbar unter der Leiche kein Stuhl oder anderer höherer Gegenstand, der für eine Selbsttötung sprechen würde. Das Seil an einem Wandhaken links verzurrt.
Flecke, Risse am T-Shirt, ergänzte Gitta Jagoda. Anzeichen von körperlicher Gewalt und Abwehrspuren.

HK Mandel fühlte sich gestört, er war zu Beginn der Ermittlungen gerne langsam, um gründlich zu sein. Er zog seine dichten Augenbrauen in die Höhe und presste die Lippen zusammen. Es entstellte sein römisches Profil und die ernste Miene. Gitta Jagoda bedauerte das. Ihr Gruppenleiter pflegte, sich und seine Männlichkeit unter Kontrolle zu halten. Des Eindrucks auf andere wegen, aber nicht, um Kapital daraus zu schlagen. Der Eindruck genügte ihm. Ehrgeizig war Jaro Mandel nur gegen Ende einer Untersuchung. Deshalb mimte er jetzt nicht den Chef. Er seufzte über Gittas Unterbrechung, gab noch einen allgemeinen Eindruck zur Lage ein und beendete die Aufnahme mit den Sätzen: Fotos von Gunnar Höhnle bis vierzehn Uhr. Die Berichte der KTU und der Pathologie nicht vor morgen früh. Wir beginnen mit der Befragung der Hausbewohner neun Uhr. O.K. Wir haben einen Fall Eberlein.
Mandel schaltete sein iPhone aus. Pädagogisches Spielzeug für Männer, nannte es Jagoda. Jede Art Computer, iPads, Tablets und Smartphones waren ihr willkommen, aber in der Mehrzahl suspekt, obwohl sie sie benutzte. Auch Autos gehörten dazu. Sie fuhr selber mit Leidenschaft eine von den Blechkisten und sah sie als eine notwendige Verlängerung ihrer Beine an, als Werkzeug zur Beschleunigung ihrer Arbeit. Werkzeuge mussten funktionieren, mussten vor allem gepflegt werden, kamen bei Versagen in die Hände von Fachleuten.
Ihr fiel ein, dass sie ihre Jacke im Dienstwagen liegenlassen hatte.
Hauptkommissar Mandel war nach seinem Anruf so rasch vor ihrem Haus gewesen, dass sie nach der Dusche eben ihre Cargo-Hose und ein Karo-Hemd überziehen konnte, die Jacke und ihr Smartphone schnappte, und los ging es. Neben Jaro kam sie sich immer etwas schäbig vor. Er trug keine Kleidung, er trug Garderobe.
Gitta Jagoda kreuzte die Arme über der Brust, als könnte sie sich damit wärmen. Über ihnen raschelte der Wind in den Blättern. Der Himmel war mit treibenden Kumuluswolken bedeckt. Auf der Dachrinne am Vorderhaus hockten verschlafen ein paar Tauben. Flugschweine, nannte sie Fix, weil sie sich im ganzen Viertel suhlten, alles anfraßen, überall hinschissen, kurz: weil er sie zu den unreinen Tieren zählte. Wobei er Schweinen unrecht tat.

Brauhaus war von Mandels Gequassel ins Handy genervt. Ihn ärgerte die Marotte seines Chefs, Elektronik solange zu benutzen, bis sie den Geist aufgab, während eine Generation nach der anderen die Welt beglückte. Fix Brauhaus verachtete geradezu Mandels Melancholie beim Reden. Seiner Meinung nach war Jaro für einen Polizeibeamten eine Spur zu elegant, eine Spur zu nachdenklich, eine Spur zu distanziert. Kurz vor Mitte vierzig. Brauhaus war eben fünfzig geworden, nicht mehr so durchtrainiert wie seine jüngeren Kollegen, dafür einen Kopf größer als sein Gruppenleiter. Jagoda war kein Maßstab für ihn. Leichtgewicht, kaum Hintern, wenig Busen. Jagoda versteckte sich hinter Männerklamotten. Noch schlimmer, sie schnitt sich ihre mausgrauen Haare regelmäßig bis zum Kinn. Frauen sollten zeigen, was sie haben.

Allerdings überließ auch Brauhaus Anzüge, wie sie die meisten zivilen Kriminalisten im Haus trugen, den höheren Etagen. Ihm genügten Jeans und Shirts oder eine Cordhose, für die extra kalten Tage dicke Pullover unter dem Blouson. Er sagte nie Bomberjacke, auch wenn es in Farbe und Schnitt keinen Unterschied machte. Manchmal trug er Holzfällerhemden aus Flanell. Die waren seine liebsten Zivilklamotten, vorzugsweise, wenn er an einem Felsen hing. Seit ein paar Wochen hieß seine Seilschaft Heike.
Wenn der Chef sein Gehalt für Markengarderobe, feine Schuhe und größere Auslandsreisen hinblätterte, brachte Fix Brauhaus seins in Lautsprecherboxen, Tastaturen, Monitoren und Spielkonsolen unter. Nicht zu reden von Kabeln und tausend anderen Kleinteilen. Er legte vor Zeiten ein Fachabitur ab, absolvierte im ROBOTRON-Kombinat die praktische Ausbildung. Nach einem missratenen Wehrdienst durfte er ein Studium an der Ingenieurhochschule beginnen, weil der Bedarf an Informatikern noch lange nicht gedeckt war. Mit Bergfreunden reiste er regelmäßig in die Sächsische Schweiz, dreißig Kilometer vor der Stadt.
Einer von ihnen überredete Fix in den Wirren des Jahres 1990, sich zum Polizisten ausbilden zu lassen. Damals traf Fix seine Entscheidung aus Überdruss. Lebenslang für Deppen programmieren – grausame Vorstellung. Brauhaus bereute es nie. Ich habe einen Job, der meine Miete und meine Hobbys zahlt, Abenteuer manchmal mehr, als ich verkraften kann. Ich muss auch nicht im Urlaub nach Alaska oder in den Kongo fliegen. Die Welt ist so klein, das Internet so groß.
Gittas Wünsche waren bescheidener, was eher an ihrer Herkunft als am Alter lag. Sie hätte gerne noch ein wenig wachsen wollen. Zwei Zentimeter lag sie über der Mindestgröße für Polizeianwärter. Die Aufnahmekommission hatte ihren Lebenslauf wohlwollend begutachtet. Fechten und Leichtathletik in der Grundschule, Handball bis zum Abitur, an der Uni Volleyball. Teamwork gefiel Gitta Jagoda offensichtlich besser, später tat sie sich damit schwer. Die Polizeihochschule hieß sie willkommen, obwohl, oder gerade weil sie ihr Jurastudium abgebrochen hatte.
Jagoda besaß weniger Berufserfahrung als Felix Brauhaus, aber sie ließ sich von ihm nicht einschüchtern. Sie wohnten nur eine Straßenecke voneinander entfernt. Als die Mord 2 gebildet wurde, vereinbarten sie eine Fahrgemeinschaft, um Benzin zu sparen. Wenn Gitta Fix aus seiner Zweiraumwohnung, inmitten seiner Games, DVDs, Boxen und Computer abholte, fühlte sie sich unwohl. Im gemeinsamen Arbeitszimmer, auf der Bowlingbahn, auch in einer Kneipe bei sächsischer Küche ließ es sich mit ihm aushalten. Zur Not hier auf der Bank, wo sie mit dem Chef alleine ihre Schwierigkeiten gehabt hätte.
Nein, Gitta Jagoda hatte nichts gegen Mandels edle Stoffe; extravagant sah anders aus. Eher schon fühlte sie sich von einem Mann gereizt, der einen Kopf wie Michelangelos David, eine Figur wie ein Prärieindianer und einen Charakter wie Don Quijote nach seiner Erleuchtung besaß. Was ihr am meisten zu schaffen machte, war Mandels Art, Abstand zu schaffen, wenn Vertrauen angesagt war. Er provozierte Gitta ungewollt, sich über jede Autorität hinwegzusetzen.

Dienst ist Dienst und Frühstück ist Frühstück, meckerte sie. War abgesprochen, dass ich heute erst um zehn antreten soll. Kann ich wieder keine Überstunden absetzen. Warum muss es immer von Null auf Hundert gehen? Tote laufen nicht weg. Ich hatte nicht mal Zeit für einen Kaffee. Ein paar Meter um die Ecke liegt das Anna Blume. Wir können uns was bringen lassen.
Jaro Mandel seufzte in sich hinein, am Ton verriet er sich. Du übernimmst jetzt das Vorderhaus, die Leute da drüben. Wir befinden uns in Sachsen. Irgendwer wird dir immer einen Kaffee brühen. Brauhaus, du kümmerst dich um den Hauseigentümer, die Verwaltung, und das Hinterhaus. Ich fahre zu den Eltern. Zwölf Uhr treffen wir uns im Präsidium.
High Noon mit Marshall Trade vor dem Saloon, ergänzte Gitta Jagoda lachend. Das nahm dem Chef den Wind aus den Segeln. Er war nicht nur Fan, er war ein Kinonarr. Nicht selten benahm er sich auch wie ein Narr bei Hofe.
Gitta Jagoda schaute zum einstöckigen Hinterhaus. Das Erdgeschoss lag jetzt in der Hand der Spurensicherung. Wie sie an der Klingeltafel gelesen hatte, wohnten im Stockwerk drüber zwei Leute. Für das ausgebaute Dachgeschoss war nur ein Name vermerkt. Drei Mieter im ganzen. Im Vergleich dazu befanden sich im Vorderhaus zwölf Wohnungen und wer weiß wie viele Menschen.
Felix hatte wieder mal den Haupttreffer. Der Chef, das war nur gerecht, übernahm das Unangenehmste. Er musste die Eltern von Yvonne Eberlein benachrichtigen und am Nachmittag in die Pathologie fahren. Allerdings saß er mit Sicherheit nach einem zweiten Frühstück wieder an seinem Schreibtisch. Was Gitta mit Neid erfüllte.

Brauhaus spürte Jagodas Unruhe. Mach keinen Aufstand! raunzte er sie an und nahm den letzten Zug aus der Kippe. Dann warf er sie zu Boden und trat sie mit der Stiefelspitze aus.
Du wirst beobachtet, meinte Gitta schadenfroh und nickte in Richtung Fahrrad-Schuppen. Sie fand in der linken Seitentasche der Cargo-Hose, unter dem Dienst-Telefon zwei Früchte-Riegel. Sie stand auf das Zeug. Passte in jeden Rucksack, in Hemd- wie in Hosentaschen und sogar in die Schreibmappe, wenn sie zum Rapport aufliefen. Denn der Dezernatsleiter Kriminalrat Claußnitzer dachte in den Pausen nicht weiter als bis zum Kaffeeautomaten in der Etagenküche.
Gitta wollte sich versöhnen, als sie Jaro Mandel den zweiten Riegel anbot. Ananas/Banane? Er zog einen Mundwinkel nach oben, was einem Lächeln ähnelte, und steckte sich das Süße in die Jacketttasche, dort, wo sein altes iPhone lagerte. Beinahe fröhlich verabschiedete er sich.
Ihr sagt jetzt den Leuten, was Sache ist. Aber nichts zur Todesart. Los gehts.
Dann schritt er, vorbei an den Hausbewohnern, geradewegs zum Durchgang am Vorderhaus und öffnete die große Flügeltür, die schon vor hundert Jahren die Lieferwagen der Werkstatt hindurch gelassen hatte. Der Nussbaum stand damals noch nicht. Nicht die Bank und nicht die Gruppe von Leuten am Fahrrad-Schuppen.
Brauhaus griff in die Innentasche seines Blousons und holte sein Smartes Teil heraus. Bevor er irgendwas anderes machte, wollte er eine SMS an seine Heike schicken, um das gemeinsame Mittagessen abzusagen. Gewöhnlich ging bei ihm Privat vor Dienst. Aber eine Leiche blieb eine Leiche und warf alle Pläne um. Endlich stand Brauhaus auf und wendete sich an die Leute am Schuppen.
Kommissarin Jagoda folgte ihm ohne Eile. Von hinten wirkte er grob und ungelenk.
Seine Stimme machte einiges wett. Er hätte im Chor der Semperoper einen guten Bariton abgegeben. Wenn es stimmte, dass die Seele durch die Stimme sprach, konnte er kein schlechter Kerl sein.

Sie gestatten, dass ich störe? Oberkommissar Brauhaus. Hier meine Kollegin Gitta Jagoda. Ich vermute, dass Sie Bewohner dieses Hauses sind, und möchte Sie bitten, sich für eine Befragung zur Verfügung zu halten. Wer im Hinterhaus wohnt, kann sich an mich wenden, das Vorderhaus bitte an Kommissarin Jagoda.
Eine sichtbar aufgelöste Frau im langen Baumwollkleid, Endfünfzigerin mit Kämmchen in der blass lila Dauerwelle, meldete sich wie zur Diskussion und plapperte sofort los.
Herr Albert aus dem Hinterhaus ist mit dem Rad in seine Schule gefahren. Die anderen, die über dem Atelier wohnen, den Polen oder was er ist, und Sascha Blondi hat seit Ende Mai keiner mehr gesehen. Die sind sicher noch unterwegs, sonst würde ihr VW-Bus hier parken. Immer steht das Ding im Weg, wenn ich an die Mülltonnen will.
Ein Mann im schwarz-gelben Dynamo-Shirt, schlanker als Brauhaus, aber mit Doppelkinn und Tränensäcken unter den kleinen Augen, schob die Frau beiseite. Wer sagt uns endlich mal, was los ist? Da wird unsereiner früh in seiner Ruhe gestört, die Polizei kommt ins Haus und niemand …
Brauhaus unterbrach. Wir haben auf Hinweis einer Hausbewohnerin eine Tote gefunden. Die Untersuchungen sind im Gange. Es gibt keinen Grund für Sie, sich zu beunruhigen. Wer kann mir Name, Anschrift und Telefonnummer des Grundstück-Eigentümers bzw. der Verwaltung sagen?
Die blasslila Mutter ließ sich nicht ohne weiteres beiseite schieben. In ihrer Aufregung war sie froh, endlich etwas Nützliches tun zu können. Wenn Sie meinen Mietvertrag sehen wollen, da steht alles drin.
Sie machte eine Geste, Felix nickte Gitta zu und folgte der Frau ins Vorderhaus.

Gitta Jagoda hatte nichts dagegen. Eine weniger auf ihrer Liste.
Der Dynamo-Fan legte schon wieder los, beschwerte sich über die Störung seiner Privatsphäre, obwohl ihn keiner in den Hof befohlen hatte.
Wie Sie eben gehört haben, bin ich KK Jagoda und möchte Ihnen gern einige Fragen stellen. Deshalb bitte ich Sie, mir Ihren Namen zu nennen und das Stockwerk, in dem Sie wohnen.
Gitta kam sich etwas blöd vor, so um den heißen Brei zu reden, aber irgendwie musste sie ein Muster ins Chaos bringen.
Ein Junge in Muskelshirt und abgewetzten Jeans, höchstens achtzehn, neunzehn, eine farbenfrohe Tätowierung auf dem linken Oberarm, drehte sich Gitta zu. Er hatte einen Teint wie frühe Pfirsiche, war der Typ, der nie wirklich braun wurde. Seine Bewegungen erinnerten an ein Mädchen beim Casting. Ich will ja aussagen, aber ich muss halb zehn zur Berufsberatung auf dem Arbeitsamt sein. Und ich wohne nicht hier.
Warum kommen Sie dann so früh auf dieses Grundstück?
Ich versorge Saschas und Tammys Katze, schlafe auch manchmal bei ihnen.
Er stockte, als hätte er so viel nicht sagen wollen. Ich kann Ihnen meine Telefonnummer geben.
Und Ihren Namen sowie die Meldeadresse. Ich bitte darum. Sie waren zur Tatzeit im Hinterhaus? In den nächsten Tagen sollten Sie verfügbar sein. Sie werden von meinem Kollegen eine Vorladung erhalten.
Kaum war es heraus, fühlte sich Gitta schäbig. Dem Jungchen Angst machen. Sie notierte die Angaben und der Teenager lief geschmeidig wie ein Model unter den Blicken aller zum Durchgang Richtung Straße.
Der lügt. Bei kaum zwanzig Grad im Muskelshirt zum Arbeitsamt, dachte Gitta so vor sich hin. Dann machte sie ihre zweite Ansage.
Jetzt der Reihe nach! Vorrang hat die Mieterin, die uns anrief. Danach werde ich jeweils an Ihrer Wohnungstür klingeln und eine kurze Befragung durchführen. Sind Sie bereit, Frau Frost?
Die Frau hatte schweigend unter den anderen gestanden, fiel Gitta Jagoda schon auf, als sie vor einer halben Stunde auf das Hinterhaus zugegangen war. Älter als die Polizistin, größer, schlanker, um nicht zu sagen mager, in weiter Leinenhose und engem, leichtem Pullover aus Rohseide. Über den Schultern ein wolliges Tuch, dass sie unter der Brust zusammenhielt. Sie starrte aus ungewöhnlich hellen schmalen Augen vor sich hin. Der asiatische Zug wurde durch das glatte schwarze Haar und den Pony-Schnitt betont. Eine sonderbare Mischung aus dem Genpool Ostwest.
Sibylle Frost? wiederholte Gitta fragend. Die Frau nickte.
Der Anruf kam von mir. Ich wohne im ersten Stock rechts. Maria Ponto hat Yvy, das heißt Yvonne Eberlein gefunden. Maria steht unter Schock. Wir haben sie in meiner Wohnung hingelegt.
Sibylle Frost holte die Sätze mühsam aus sich heraus. Ihr flaches Gesicht bewegte sich kaum beim Sprechen.
Brauchen Sie medizinische Hilfe? KK Jagoda rief öfter einen Notarzt, wenn Zeugen oder Nachbarn am Tatort außer Kontrolle gerieten.
Frau Frost schüttelte den Kopf. Die junge Frau neben ihr, üppig gebaut, mit einer ungekämmten blonden Mähne, antwortete für die Nachbarin.
Mein Mann ist Krankenpfleger. Er hat sich um Maria gekümmert. Peter wartet jetzt oben bei den Kindern. Eigentlich wissen wir alle nicht, was los ist. Maria und Sibylle sagen: Yvonne ist tot. Sie soll sich erhängt haben. Glaub ich nicht. So was tut keine, die einen festen Job und Freunde hat. Vorgestern haben wir noch mit ihr gefeiert.
Schon wieder so was. Die Frau schien dennoch als Einzige bei Verstand zu sein. Sie schlug der Polizistin vor, mit ihr ins Haus zu kommen und einen Kaffee zu trinken. Auch ihr Mann und ihre Kinder brauchten endlich ihr Frühstück.
Gitta Jagoda lehnte bedauernd ab. Sie wollte die schwierigste Aufgabe zuerst erledigen und Frau Frost zu Maria Ponto begleiten. Den Mann im Trikot musste sie vorsichtig auf später festlegen. Er schien so oder so nichts sagen zu können, was zur Sache gehörte.

2 Drei sind zwei zu viel

Frau Frost ging voraus. Ihre Schritte hallten im hohen Treppenhaus. An der Tür im ersten Stock stand auf dem Namensschild, passend zu Treppengeländer und Wanddekors
Sibylle Frost
Bund Deutscher Architekten

Auch gut, dachte Gitta Jagoda. Mit dem Dynamo-Mann hätte ich es schlechter getroffen.
Im Flur der Wohnung strahlten winzige Spotlights über einer Jugendstil – Garderobe und breiten Regalen, die vom Fußboden bis zur Stuckdecke eine umwerfende Bücherwand bildeten.
Dem Wohnungseingang gegenüber öffnete Frau Frost eine verglaste Tür so behutsam, als lauere dahinter ein Monster mit Ekel erregenden Zügen. Gittas erster Blick fiel auf getrocknete englischen Rosen. Eher Strauch als Strauß. Sie standen erstarrt in einem Porzellangefäß, das vor hundert Jahren ebenso als Nachttopf wie als Suppenterrine gedient haben könnte. Neben den Rosen hatte Frau Frost die Fensterbretter mit anderem nostalgischem Kram belegt. Das war dann auch schon alles an Romantik.
Die übrigen Einrichtungsgegenstände schienen sehr gepflegt oder brandneu zu sein, unterkühlt wie der Name ihrer Besitzerin, in gemessenem Abstand voneinander und mit keiner Abweichung von Weiß, Grau, Jade und Rosé. Möglich, dass die Architektin beim Einrichten einen Farbfächer und Winkelmaß benutzt hatte, um nichts falsch zu machen.
Der riesige Apple-Monitor auf dem Arbeitstisch und ein Teil der herumliegenden Zeitschriften schienen fehl am Platz, obwohl die Frau ganz offensichtlich gerade damit mehr als Butter aufs Brötchen verdiente.

Kommissarin Jagoda hatte erwartet, Maria allein und liegend anzutreffen, aber da saßen zwei steil auf den über Eck stehenden Sofas. Eine alternde, schwedisch-blonde Selbstdarstellerin in geblümtem Satin-Hausmantel hielt ihre spitzen Knie umklammert und starrte entsetzt auf die Fremde. Die andere saß, mit den Beinen im Schneidersitz, wie ein geprügeltes Kind. Vielleicht lag es an der Körpergröße. Wenn man von Größe reden konnte. Oder es waren der dunkle Lockenkopf, das weiße Kapuzenshirt, die Art, wie das Mädchen seine Fäuste gegen die Augen drückte. War das Maria?
Gitta ahnte, wie es um die Kleine stand. Ein wenig hilflos, wie immer, wenn sie Teenagern begegnete, suchte sie nach Unterstützung. Frau Frost, im Hof die müde, aber selbstsichere Frau um die Vierzig, stand im eigenen Zimmer nicht weniger ratlos als die Kriminalkommissarin.
Ich mach uns schnell was zur Stärkung, entschied sie und ging mit lautlosen Schritten über den altrosa Teppich aus dem Zimmer.
Mein Name ist… Gitta Jagoda stellte sich den beiden anderen mit Titel und kleiner Einleitung zu ihrer Aufgabe vor.
Die Frau im Satinmantel zeigte immer noch keine echte Teilnahme. Sie war jedoch bereit, ihrerseits zu erklären, dass sie Franziska Kriepel, die Nachbarin der Architektin sei und Mitglied der Ateliergemeinschaft im Hinterhaus.
Ihr zartes Blond und die geblümte Morgenkleidung täuschten. Ihre Stimme war dunkel und der Ton rau. Sie kam sofort zur Sache.

Maria, (sie nickte mit dem Kopf in Richtung der anderen), wollte heute Morgen eine Mappe aus dem Atelier holen. Sie hat eine Konsultation bei ihrem Professor. Ich bin im Vorstand des Vereins, wohne günstig, ich verwalte die Schlüssel. Maria kam nach zwei Minuten zurück, ohne Mappe. Ehe ich verstand, was sie wollte, hatte sie einen Zusammenbruch. Ich konnte sie nicht im Hausflur stehen lassen. Deshalb klingelte ich bei Sibylle. Sibylle weiß immer, was im Notfall zu tun ist.
Die Kriepel verstummte. Das Mädchen schien nicht zu interessieren, was vor sich ging. Es hatte die Fäuste von den Augen genommen. Seine Miene war eine Maske, blass unter der braunen Haut. Die Kriepel sprach weiter.

Ich klingelte also bei Sibylle und sie ließ uns herein, wir legten Maria hier aufs Sofa. Dann lief sie zu Peter, damit er sich um uns kümmert, und ging selber ins Hinterhaus. Inzwischen sollte ich hier warten. Was meinen Terminkalender total durcheinander bringt. Als Sibylle zurückkam, telefonierte sie mit der Polizeiwache. Ich habe mich dann kurz über ihr Telefon bei meinem Chef abgemeldet. Ich arbeite in der Restaurierungsabteilung der Alten Meister.
Währenddessen hat Peter Maria etwas zur Beruhigung gegeben, dann musste er wieder nach oben zu seinen Kindern. Er wohnt mit Familie in der zweiten Etage, direkt über mir.
Keine Erregung in der Stimme, kein Wort des Kummers. Der alternde Engel schien geübt darin, sich vor sich selbst und der Welt zu schützen.
Maria Ponto fing plötzlich an zu weinen. Fast lautlos und qualvoll wiegte sie sich vor und zurück. Ein gutes Zeichen. Das Mädchen begann, aus dem Schock aufzutauchen.
Gitta Jagoda hörte Schritte hinter der Milchglastür und sah am Schatten, dass die Hausherrin etwas in der Hand trug. Die Kriepel zuckte nicht, also öffnete die Kommissarin die Tür.

Sibylle Frost brachte ein Tablett mit Tassen, Milch und Zucker und einem dieser Zubereiter aus Glas, in denen der Kaffee aufgebrüht und der Satz kräftig nach unten gedrückt wird.
Sie stellte alles auf einem Couchtisch mit Rädern zurecht und zog ihn näher zu den Frauen. Endlich bemerkte sie, dass die Kommissarin immer noch stand. Sie bat sie, sich einen Platz zu wählen und setzte sich selbst gegenüber, strich Maria über die Schultern und Arme, strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Dann schüttelte sie den Kopf. Ich habe vergessen, Sie vorzustellen. Haben Sie sich bekannt gemacht? Maria Ponto Gomez und meine Nachbarin Franziska Kriepel. Ich kenne Franziska durch gemeinsamen Arbeiten. Sanierung von Altbauten. Gründerzeit, Jugendstil. Über sie habe ich die Wohnung in diesem Haus bekommen. Einen Ort, an dem ich Ruhe finden wollte. Das wars dann.
Gitta hatte sich neben die Kriepel gesetzt und nahm vorsichtig eine Tasse. Das war’s für sie noch lange nicht. Das war erst der Anfang vom Anfang. Mag sein, Sibylle meinte ihren Ort für Ruhe. Mag sein, sie glaubte, genug gesagt zu haben. Gitta Jagoda schluckte langsam, mit Genuss, spürte dem feinen Aroma mit einer Spur Kakao nach. Die Sahne oder Milch im Kännchen hatte sie diesmal nicht angerührt. Zucker kam erst recht nicht in Frage. Aber das wärmende Getränk weckte den dringenden Bedarf nach Butterbrot, Käse, Honig, Obst, ersatzweise Fruchtmark.
Frühstück gut, alles gut. An manchen Tagen war das die Rettung, an manchen Tagen hatte Gott keinen Bock auf Mitgefühl. Er ließ sich nicht blicken. Heute war so einer.
Auch Franziska Kriepel setzte rasch ihre Tasse ab. Ich bin sehr unter Druck. Ich bereite eine Dienstreise nach Rom vor. Fragen Sie, was Sie wissen wollen!
Womit kann man mehr unter Druck geraten als mit einer Toten am Hals? Vielleicht war es keine brauchbare Idee, die drei Frauen gemeinsam zu befragen. Gitta Jagoda wusste, wann die Verwirrung begonnen hatte, sie musste eine andere Form finden.
Sibylle Frost hielt sich raus. Sie goss viel Milch in ihre Tasse und wenig Kaffee. Maria trank mit sehr viel Zucker, sie war endlich ansprechbar, plötzlich älter, so um drei Jahre, was im Teeny-Alter schließlich sehr viel bedeutete.
Kommissarin Jagoda ging in die Offensive.

Ich möchte Ihnen jetzt einige Fragen stellen. Es sollte Ihnen klar sein, dass Ihre Antworten Einfluss haben darauf, wohin wir unsere Ermittlungen lenken. Fällt Ihnen später noch etwas ein, um so besser. Ich frage jetzt und nur Diejenige antwortet, die ich anspreche. Wenn Sie nacheinander ergänzen, was Sie zu meiner Frage noch wissen, ist mir das recht.
Sie sind spanische Bürgerin, Frau Ponto? (Wieder falsch. Frau schon gar nicht. Maria wäre besser. Von ein paar jugendlichen Knospen unter dem weißen Kapuzenshirt abgesehen hätte sie auch als Mario durchgehen können.)

Durch die geschlossenen Fenster dröhnte Glockenläuten. Maria flüsterte:
L´ église, Kirche von Luther, hört man hier ständig. Schon wieder eine Stunde vorbei.
Viertel zehn, murrte Franziska Kriepel.
Stammen Sie aus Europa? fragte die Kriminalkommissarin geduldig.
Ich bin Chilenin, in Dresden geboren, aber Schule in Frankreich. Meinen Vater war sehr junge Maler, wenn er ist weg aus Chile. Er hat in diese Stadt meine Mutter getroffen. Ihre ganze Familie waren Flüchtlinge. Neunziger Jahre ist Vater mit uns nach Paris. Ich bin dort in die Schule, deshalb kein gutes Deutsch, wollte oft hier zurück, meine Großmutter sehen und andere. Deshalb ich bin hier Studentin geworden. Mein Professor kennt meinen Vater.
Kriminalkommissarin Jagoda unterbrach. Sie haben die Tote gefunden. Erzählen Sie bitte, wo und unter welchen Umständen.
Das rundliche Gesicht, die gebräunte Haut verzogen sich wieder wie zum Weinen. Das Mädchen schloss die Augen, sprach gegen die Tränen an.
Ich habe Vereinbarung mit Professor Overbeck an der Hochschule. Ich habe Skizzen in meine Mappe, die ich brauche. Sie ist in Atelier. Jede Künstler hat hier seine Fach. Ich in B-Raum. Ich wollte Schlüssel von Franzi, sie hat mir gegeben und ich schnell durch l´entreé, nicht durch die Haustür.
Gitta erinnerte sich an den mehrflügeligen Werkstatteingang, der vom Hof direkt in das große Maleratelier führte. Sie nickte, auch wenn sie noch nicht wusste, ob dieser Umstand eine Bedeutung für den Fall hatte.
Ich bin fast über Stuhl gefallen, es war nicht aufgeräumt von Abendkurs. Das macht immer das Modell. Ich habe mich geärgert und nicht aufgepasst. In B-Raum hing eine Puppe an Seil. Vielleicht von Wochenende, habe ich gedacht. Wochenende war in Quartier, in unser Atelier Bunte-Republik, trois jours ein großes Festival, viele Leute und so. Ich kam nicht an meine Fach. Ich schiebe Puppe beiseite. Sie ist schwierig. Ich sehe nach oben und ich sehe Yvy, die Haare, die Zunge, die Hände. Ich laufe davon. Zurück zu Franzi.
Es schüttelte sie wie beim Bremsen einer Straßenbahn.
Gitta verschluckte sich am Kaffee. Hustete. Wo genau befindet sich das Fach, an das Sie wollten?
Das Mädchen versuchte wieder zu sprechen. In B-Raum, linke Regal, Mittelreihe. Ist für Mappen und plastische Arbeiten und so. Ich bin gekommen in Ateliergemeinschaft, als nur Platz war für Bildhauer. Ich habe angefangen in Oktober, mache Grundkurs. Später ich brauche mehr. Ist das wichtig?
Danke. Alles gut. Ihre Adresse, die Telefonnummer möchte ich noch notieren. Dann können Sie in die Hochschule fahren.
Ich gehe nicht. Ich habe Mappe nicht. Ich kann nicht jetzt.
Sie fing wieder an zu weinen und fasste sich mit der Linken in die kurz gelockten Haare. Die Kaffeetasse in der Rechten kippte gefährlich zur Seite. Sibylle Frost griff mit der einen Hand zur Tasse, mit der anderen wischte sie wieder über Marias Gesicht. Ist alles in Ordnung. Ich rufe Overbeck an. Bleib bei mir, solange du willst. Ich hole eine Decke, damit du dich ausschlafen kannst.
Kommissarin Jagoda drehte sich seitlich zu Franziska Kriepel. Sie sagen, Sie haben den Schlüssel zum Hinterhaus. Es hat mehrere Zugänge. Sind sie immer alle verschlossen?
Nein, die Eingangstür in den Hausflur bleibt manchmal offen. Nur die Flügeltür vom Hof führt direkt ins große Atelier und die Wohnungstüren müssen ständig gesichert werden. Wir haben ein Schließsystem, das für das gesamte Hinterhaus funktioniert. Wenn von innen ein Schlüssel steckt, können wir trotzdem von außen öffnen.
Als das Gründerzeitviertel entstand, wurde im Hinterhaus eine Werkstatt für Klavierbau eingerichtet. Sie brauchte einen Zugang zum Hof. Vom Hausflur geht es links rein. Eine Hintertür gibt es nicht. Rechts führt eine Tür in die Erdgeschoss-Wohnung, in der früher einmal der Hauswart für das ganze Grundstück wohnte. Wir haben in diese Räume ein Bad mit Toilette eingebaut, ein Bürozimmer mit unseren Computern und ein Werkzeuglager. Manchmal schläft ein Gast in der Wohnküche und ein zweites Sofa steht für Übernachtungen im Maleratelier. Aber beide wurden gestern nicht gebraucht.

Gitta Jagoda interessierte sich vorerst nicht für die rechte Seite im Erdgeschoss. Sie hatte ein gutes Gedächtnis für Räumlichkeiten, erinnerte sich an die ungewöhnliche Aufteilung des Bildhauer-Ateliers.
Es besaß eine tiefer sitzende Fensterreihe nach Südwesten, mit Blick in einen verwilderten Garten und die Rückseite der Parallelstraße. Die hohen Fenster ließen den Werkstattraum größer erscheinen. Der Grundriss glich einem quer gelegten Rechteck. Über die Stahlträger unter der Decke liefen Rollen mit Seilen. Sie fragte bei Franziska Kriepel nach. Die begriff nicht sofort. Sibylle Frost antwortete.
Im hinteren Bereich wurden früher die Klaviere zusammengebaut. Deshalb hat das Erdgeschoss für Hinterhäuser eine ungewöhnliche Höhe. Zum Saiten aufziehen und Stimmen rollten die Klavierbauer die Instrumente in den vorderen Saalteil, den wir A-Raum nennen. Manchmal finden sich in den Ritzen der alten Dielen noch kleine Dinge: Kupferblättchen, Draht oder Holzteilchen. Im A-Raum, dem heutigen Maleratelier, das zur Hofseite zeigt, standen die fertigen Klaviere bis zum Abtransport. Deshalb die Flügeltür zum Hof.
Der Seiltechnik wegen haben sich unsere Bildhauer, das sind Sascha Blei und Tamás Szokoly, vor Jahren für den Ausbau der Werkstatt interessiert. Heute gibt es keine so starke Trennungen zwischen den Kunstrichtungen. Der B-Raum wird von allen genutzt, die sich mit Plastik oder Installationen beschäftigen.
In den Jahren, als Sascha und Tammy an der Hochschule studierten, erledigten sie dort Steinmetzarbeiten und haben deshalb den Fußboden verstärkt und frisch betoniert. Die Wand mit Tür zwischen Maleratelier und B – Raum haben sie nachträglich gemauert, damit Steinstaub, Holzdreck und Ähnliches die Bilder der Maler nicht beschädigen. Die kleine Dunkelkammer zwischen den Räumen hat Uwe eingerichtet. Uwe Albert gründete mit den beiden die Ateliergemeinschaft.
Sie kennen sich aus, stellte Kommissarin Jagoda knapp fest. Sind Sie auch ein Mitglied dieser K 69?
Ich werde immer wieder eingeladen. Sascha und Tammy kenne ich seit meiner früheren Tätigkeit bei der DomusPrivat. Gleiche Firma, gleicher Kummer. Yvonne gehörte ebenfalls dazu. Sie war dort unsere Sekretärin. Über die Jungs hat sie den Job als Atelier-Modell gefunden.
Sibylle schüttelte sich, als sie den Rest aus ihrer Tasse trank. Vielleicht war sie eher Teetrinkerin als Kaffeesachse.
Gitta Jagoda wartete, aber es kam nichts mehr. Die drei hatten beschlossen zu schweigen. Jede aus einem anderen Grund.
Frau Kriepel, erklären Sie mir bitte, wer welche Schlüssel besitzt und wer Zugriff auf sie hat.
Franziska Kriepel saß immer noch wie ein Hochspannungsmast. Sie zog ihren Satinmantel über der Brust zusammen. Sie antwortete unleidlich. Sascha Blei, Tamás Szokoly und Uwe Albert als Mieter und Vereinsgründer besitzen jeweils einen ganzen Satz Schlüssel fürs gesamte Hinterhaus, einschließlich Büro im Erdgeschoss. Sie haben es Anfang der Neunziger zum Wohnen und Arbeiten gemeinsam ausgebaut. Später hat Uwe D., ich meine damit Uwe Donner, einen der beiden Eigentümer, ihnen finanziell unter die Arme gegriffen und Dach und Fassade sanieren lassen. Sein Bruder Udo ist der Miteigentümer des Grundstücks. Udo und Uwe Donner besitzen noch andere bebaute Grundstücke in der Stadt.
Donner, aus der „Schönen Wirtschaft“? ging Gitta Jagoda dazwischen.
Frau Frost bestätigte. Eben der. Uwe hatte mit einem Freund das Goldene Hufeisen erworben und als Schöne Wirtschaft 1993 eröffnet, noch bevor er die Papiere zur Rückübertragung der Ka 69 bekam.
Den schönen Uwe, wie ihn Leute im Viertel nannten, hatte Gitta Jagoda schon notiert. Udo und Uwe. Manche Eltern könnens nicht lassen.
Die wenigen Notizen, die die Kommissarin bei Befragungen machte, beschrieb sie meist mit Stichwörtern. Eher als Gelegenheit, sich selber Pausen zu verschaffen, als später auf Geschriebenes zurückzugreifen. Ihr Gedächtnis hielt viel aus. Die Eigentümer und die Mieter des Hinterhauses gehörten so oder so in die Hände von Brauhaus.
Weiter! Wir waren bei den Schlüsseln, sagte sie. Wer gehört noch zu den Auserwählten?
Frau Kriepel übernahm wieder. Natürlich besitzt auch Uwe Donner ein komplettes Schlüsselbund, nicht nur fürs Hinterhaus. Er versteht sich als Schirmherr der Ateliergemeinschaft. Den speziellen Schüssel fürs Atelier und für die Haus- und die Wohnungstür kann sich jedes Mitglied bei mir holen, für individuelle Arbeitszeiten, für Themenvorschläge unserer Monatsmeetings, für Eintragungen in den Ausstellungsplan oder für Nachrichten an Dritte. An diesem kleineren Bund hängen drei Schlüssel. Das Bund wandert manchmal von Hand zu Hand, manche Leute vergessen, es zurückzugeben. Dann haben wir gewaltigen Ärger. Deshalb habe ich seit ein paar Jahren einen Reserve-Dreier, den ich nie herausgebe. Er bleibt grundsätzlich bei mir.

Gitta Jagoda hatte genug über Schlüssel gehört, aber wenig verstanden. Sie fragte erst einmal weiter. Jetzt zu allen Personen, die die Ateliers benutzen. Wenn jemand an seinem Bild malt, seine Filme entwickelt oder auch nur seine Mappe holt, wie Maria, klingelt er oder sie bei Ihnen?
Besser, man ruft vorher an. Bin ich auf Reisen, übernimmt Sibylle meine Arbeit. Ich muss schließlich wie alle meine Miete zahlen und meinen Ofen heizen.
Reflexartig blickte sich Gitta im Raum um, ob sie einen Ofen übersehen hatte.
Im gedämpften Ton der Einrichtung, dem metallischen Rollschrank und dem kühlen Möbelgrau konnte sie keinen entdecken.
Bis hin zu den toten Blumen alles ausgesprochen pastellig. Ein kompakter Ofen wäre mehr als nützlich, dem Raum Tiefe und Wärme zu geben. Frau Kriepels Spruch war wohl nicht wörtlich zu nehmen.

Der eigenartige Fall, ein ungewöhnliches Grundstück, drei seltsame Frauen. Kriminalkommissarin Jagoda musste sich beeilen. Eine Bitte noch, Frau Kriepel, schreiben Sie mir alle Namen und Telefon-Nummern der Mitglieder Ihrer Atelier-Gemeinschaft auf. Vermerken Sie, wer welchen Schlüssel und welchen Zugang in den letzten Tagen hatte. Schicken Sie mir die Liste per Email. Gibt es außer Yvonne Eberlein noch andere Modelle, dann bitte auch diese Namen. Zuletzt noch eins. Wie ist Yvonne Eberlein gestern ins Atelier gekommen?
Franziska Kriepels Alt-Stimme verriet, dass sie endgültig genervt war.
Ich bin fürs Aktzeichnen verantwortlich. Es ist die beste Einnahmequelle für den Verein, weil konstant Zulauf kommt, auch durch bereits arrivierte Leute. Mitglieder vom Künstlerbund müssen bei uns dafür nicht zahlen. Einmal im Monat gebe ich außerdem Anleitungen zum Aquarellieren. Uwe Albert holt mit seinen Veranstaltungen weitere Einnahmen: Grafikkurs und Fotoworkshops. Lizzy, unsere Älteste töpfert mit ihrer Gruppe.
Zurzeit gibt es drei Bildhauer in der AG, die Gründungsmitglieder Sascha Blei, Tamás Szokoly und das Noch-Nicht-Mitglied Nils Donner. Er macht in diesem Jahr sein Abitur. Sascha und Tammy haben ihm eine Chance geben wollen. Nicht, weil er der Sohn eines Eigentümers ist, sondern weil er sich schon seit Jahren bei uns herumtreibt und Talent zeigt.
Manchmal veranstalten andere Mitglieder Wochenendkurse. Ein Teil dieser Einnahmen fließt in die Vereinskasse. Wir haben im Mietvertrag mit den Donners das Vorkaufsrecht für das Hinterhaus stehen. Könnte gut sein, wir sind in zwei, drei Jahren soweit.
Fast boshaft steigerte sich Franziska Kriepel. Wenn die Polizistin sie so lange aufhielt, sollte sie wissen, dass der Verein nicht ihr größtes Problem war.
Es gibt bei uns auch Publikumsverkehr. Monatlich werden im Maleratelier neue Arbeiten in einer Ausstellung gezeigt, die am Wochenende kostenlos besichtigt werden kann. Das macht uns gemeinnützig und zählt auch bei Anträgen auf Fördergelder. Am vergangenen Wochenende hatten wir anlässlich des Stadtteilfestes eine Präsentation der Ateliergemeinschaft und sehr viele Besucher, darunter Leute, von denen wir Spenden erhielten.

Das ist wirklich interessant, unterbrach die Kriminalkommissarin wieder, aber ich brauche vor allem besagte Liste und den Ablauf des gestrigen Abends.
Franziska Kriepel seufzte. Oder holte nur mühsam Luft.
Ich hatte halb sieben für den Abendkurs geöffnet, die Plätze vorbereitet, Material bereit gelegt, CDs geholt. Im Raum waren knapp zwanzig Grad. Ich hatte vergessen, früher zu heizen, deshalb einigten wir uns darauf, dass das Modell diesmal keinen Akt stellt. Niemand wollte, dass Yvy sich erkältet.
Sie kam kurz nach sieben. Sie musste bis Anschlag im Kino arbeiteten und schaffte es nur mit Hängen und Würgen.

Franziska Kriepel schien nicht zu merken, was sie da von sich gab. Sibylle Frost blickte entsetzt von ihr zu Maria und zur Kriminalkommissarin. Maria war zu verwirrt, Gitta Jagoda ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Frau Kriepel redete weiter.
Ich machte Kasse. Wir entschieden uns fürs Porträtzeichnen, arbeiteten bis zehn Uhr, zwei gingen eher. Nils, Yvonne und Olaf Doberand, ein Grafiker aus der Neustadt, wollten noch ein wenig Musik hören. Vom Fest der Bunten Republik waren Wein und Obst, Brote mit Schinken übrig. Ich bin gegen elf zu mir gegangen. Yvonne macht es immer wie die anderen auch. Wer länger bleibt, wirft mir die Atelierschlüssel in den Briefkasten.
Und Sie haben ihn dort gefunden? Gitta unterbrach ungern, doch die Befragung zog sich schon zu lange hin. Die Frage war ein Test, Frau Kriepel bemerkte es nicht.
Das war das Problem! Franziska kam zum ersten Mal in Rage. Ich griff ans Schlüsselbrett, als mich Maria früh um sieben weckte. Da hingen nur meine Ersatzschlüssel. Ich war abgelenkt, ich hatte es eilig, weil ich ab acht in der Restaurierungswerkstatt erwartet wurde. Maria hätte am Sonntag dran denken können, ihre Mappe mitzunehmen. Dann fiel mir ein, dass ich vor Yvy und Nils gegangen war und griff mein privates Schlüsselbund, um den Ateliersatz aus dem Briefkasten zu holen. Dort lag er nicht. Also musste Yvonne vergessen haben, ihn bei mir einzuwerfen. Das sah ihr gar nicht ähnlich.
Ich war noch nicht angezogen, gab Maria mein Ersatzbund, aber sie kehrte sofort zurück. Ihr Gerede kam mir spanisch vor. Da habe ich bei Sibylle geklingelt.
Sibylle Frost, die bisher alles unter Kontrolle hielt, nickte zur Aussage ihrer Nachbarin. Die Kriminalkommissarin ärgerte sich über die Kriepel. Was für ein Geplapper, nur, um sich nicht ihrer Feigheit zu stellen. Maria schien wieder weg zu driften. Von ihr war nichts mehr zu holen. Gitta Jagoda klopfte mit dem Kugelschreiber auf ihren Notizblock.

Heute kann ich nur diese kurze Befragung machen. Wir werden weiterhin auf Ihre Mitarbeit zählen müssen und Sie alle drei ins Präsidium bitten. Nochmal zum Anfang, Frau Frost. Sie kamen nach Maria in die Atelierräume. Sie sagten, Sie kannten die Tote schon lange. Wollen Sie mir beschreiben, wie Sie Yvonne Eberlein fanden?
Sibylle Frost nickte. Alles, was Franziska sagt, kann ich bestätigen. Franzi und Maria klingelten vor acht bei mir. Maria behauptete, Yvy hängt an einem Strick im B-Raum. Ich packte die Kleine auf meine Liege, ließ die beiden allein und ging zu Peter Schaffer, der als Pfleger mit Extremfällen besser umgehen kann. Danach lief ich mit Franzis Bund ins Hinterhaus. Auch ich benutzte nur die Flügeltür im Hof. Als ich Yvy sah, ließ ich alles stehen und liegen, verschloss die Zugänge und rief von meiner Wohnung aus die Polizei an.

Sie gönnte sich eine Pause zum Ausatmen, dann sprach sie weiter.
Yvonne Eberlein und ich haben uns in letzter Zeit selten getroffen. Vor Jahren sahen wir uns fast täglich in der Domus GmbH. Nach meinem Abgang aus der Firma hörte ich von Uwe Albert irgendwann, dass sie inzwischen mit einer Freundin zusammen lebt. Yvonnes Mitbewohnerin kann Ihnen sicherlich eine besser Auskunft geben.
Freundin. Ganz schwach kam ein Unterton mit. Im ganzen klang die Sache so, als wolle Frau Frost die Kriminalkommissarin endlich loswerden.
Name und Adresse dieser Freundin? fragte Gitta Jagoda.
Karina Weißnichtwie. Yvonne wohnt mit ihr zwei Straßen weiter, in der Zwickauer 24, erster Stock.
Kommissarin Jagoda hatte die Nase voll. Drei auf einen Streich, das klappte nicht mal bei Fliegen. Frauen konnte man in Gruppe einfach nicht befragen.
Sie blickte auf ihre Notizen und hoffte, dass sie nur ihren PC und eine halbe Stunde Ruhe brauchte, um das Gespräch Bild für Bild und Wort für Wort zu rekapitulieren. Darin war sie wirklich gut.

3 Hinterblieben

Hauptkommissar Mandel saß regungslos hinter dem Steuer. Er wusste, wie es ihm mit diesem Auto ging, wenn er übermüdet fuhr. Die Karre hing ihm seit gestern an. Er benutzte Dienstfahrzeuge nur, wenn er seinen Lancia in die Werkstatt bringen musste. Zum Glück ein Garantieschaden. Die Lancia-Modelle waren ein hartnäckiger Tick. Damals ein Geschenk seines verstorbenen Großvaters zu seinem 18. Geburtstag.
Brauhaus wäre mit einem VW gekommen, der machte sich nicht viel aus guten Motoren und eleganten Karossen. Jagoda besaß einen alten Fiat. Brauhaus und Jagoda fuhren oft gemeinsam mit dem einen oder anderen Wagen zum Dienst. Als Mandel die Kommissarin anrief, hatte er nur daran gedacht, den neuen Fall zu beschleunigen. Er schlief letzte Nacht sehr schlecht, wenn man das schlafen nennen wollte, und fuhr schon vor acht ins Präsidium.
Auf Brauhaus konnte man in Sachen Geschwindigkeit nicht bauen. Fix war hoffentlich schon unterwegs zum Eigentümer der Kamenzer 69. Er benahm sich morgens oft störrisch, er hätte beide warten lassen. Also setzte sich Jaro ans Steuer und lud in der Johannstadt kurz entschlossen Jagoda und Brauhaus in den Dienstwagen ein. Sein Blaulicht hatte Vorrang im Straßenverkehr.

Stopp an der Einfahrt zur Prießnitzstraße. Die Männer karrten Container aus dem Hof von Pfunds Molkerei. Geduld war reine Übungssache. Gelegenheiten zum Üben hatte Jaro Mandel schon als Kind gehabt. Besser nicht dran denken. Die Folgen erlebte er bis heute wieder und wieder, wenn er vergaß sein Medikament zu nehmen. Gestern war er wieder mal so weit.
Langsam fühlte sich Mandel körperlich besser. Abgesehen von den Gedanken, die ihm durch den Kopf stiebten. Auch Gedanken konnte man fühlen.
Brauhaus segelte im Aufwind. Vielleicht eine Frau im Spiel. Felix konnte widerlich werden, wenn man ihn antrieb, zog sich dann Nikotin rein, als hätte er einen Test-Vertrag mit Gauloise. Wie viel Gift verträgt der Mensch an einem Tag, ohne eklig zu reagieren?
Im Büro ging er seinem Gruppenleiter aus dem Weg, wenn er rauchen wollte, aber Jagoda konnte ihm nicht ausweichen. Sie saßen in einem Raum. Wenn das schmale Loch so genannt sein durfte.

Jagoda hatte manchmal Schwierigkeiten mit ihm, ihrem Chef. Dass sie sich eher Fix Brauhaus anpasste, war befremdlich. Unmöglich mit Gitta darüber zu sprechen. Sie würde sofort zu ihm rennen und ihn fragen, ob er das genau so sieht. Eine seltsame Frau. Ein offenes ovales Gesicht, runde graue Augen, schlanker Hals und eine Mimik, die nie stillstand. Schwierig, gegen ihre Ironie anzukommen. Gute Ergebnisse im Dienstsport. Sagenhaftes Gedächtnis und die schnellsten Finger auf der Tastatur. Auch wenn sie sich nicht für eTechnik interessierte. Keine Frage, dass sie trotz ihrer Jugend besondere Fähigkeiten in die Mordkommission brachte. Der Dezernatsleiter Claußnitzer stand auf ihrer Seite. Aber was wusste der von Gittas Naivität in gewissen Situationen. Brauhaus manipulierte sie. Gefährliche Kombination. Er blieb andererseits ein loyale Kollege, der nichts über die Abteilung hinaus trug. Etwas Infantiles lag in seiner Leidenschaft für Computer und Spiele. Für Mandel grenzte sie an Besessenheit. Trotz allem war Fix am richtigen Platz. Er durfte nur nicht überfordert werden. Das war sein Problem.

Das Fahrzeug der Stadtreinigung zog knapp an ihm vorbei. Jaro Mandel lockerte die Handbremse, drehte den Schlüssel im Schloss und startete. Er holperte übers Kopfsteinpflaster der Prießnitzstraße Richtung Bautzener. Elvira hatte die Adresse der Eberleins durchgegeben: Sonnleite 11. Die Straße befand sich hoch über dem Fluss, auf dem Weißen Hirsch, dem ehemals vornehmsten Stadtteil, der sich an die Schlösser auf den Elbhängen anschloss. Mandel schaltete zurück in den ersten Gang, als er aus der Prießnitzstraße an die Bautzener kam, wartete geduldig, um nach links in den Verkehrsstrom einbiegen zu können.
Jagoda brauchte eine Weiterbildung, um ihr Selbstbewusstsein zu fördern. Möglich, dass ihr einfach noch nicht genug passiert war. Behütete Kindheit und solide Herkunft, meinte Claußnitzer. Er kannte die Personalakte. Ob er in der Akte auch nur annähernd an Gitta ran kam, bezweifelte Jaro.
Jura-Studium kurz vor dem Abschluss abgebrochen, in die Ausbildung an der PHS Bautzen gewechselt. Paar Jahre Revierdienst, schließlich ins Dezernat 1 übernommen. Keine Familie. Auch gut. Aber irgendwas fehlte ihr. Vielleicht war diese Naivität gespielt und eines Tages kam die Intrigantin durch. Das wollte Jaro Mandel nicht hoffen. Er mochte sie und wollte nicht enttäuscht werden.

Der Hauptkommissar war endlich auf der schnellen Spur. Ein Blick nach rechts über die Flussbiegung, die Brücke und die Stadtsilhouette, als er die Kurve bergan Richtung Bühlau fuhr. Er hätte nie gedacht, dass ihm diese Stadt so wichtig werden könnte, so vertraut und liebenswert. Die Frau, die ihn hierher gebracht hatte, war nach London weiter gezogen. Kunsthistorikerin und in ihr bevorzugtes 19. Jahrhundert verrannt. Andererseits sehr lebenspraktisch auf ihren eigenen Weg ausgerichtet. Sein Leben, seine Arbeit waren nicht halb so geordnet, wie die Ausstellungen seiner Ehemaligen.

Jagoda müsste mal ins Ausland, zum Beispiel nach San Francisco. In der Nähe soll ein Cousin von ihr wohnen. Jaro war dort. Ausland verändert den Blick und holt Charakter ans Licht. Leider ließ sich so ein Einsatz in den östlichen Bundesländern schwer begründen. Erst ausgefallene Leistungen und Ereignisse brachten einen guten Polizisten aus dem miefigen Stall ins Freie. Ihm war es gelungen. Immerhin. Er war in Hamburg erwachsen geworden. Als Austauschschüler bereits einmal für ein Jahr in den Staaten, hatte ihn seine spätere Dienststelle in Frankfurt nach San Francisco geschickt. London kam später. Dort lernte er Claudia kennen. Dumm gelaufen. Wer weiß, wie es mit ihm weiter gegangen wäre, wenn er nicht blindlings eine Frau geheiratet hätte, die sich nie länger als vier, fünf Jahre in einer europäischen Kulturstadt aufhielt. Ihre Beziehung hatte anfangs nicht darunter gelitten, dass sie ihrem Beruf an verschiedenen Orten nachgingen.
Als ihm der Abstand zu groß wurde, er endlich zu ihr nach Dresden zog, war es für seine Ehe zu spät. Jetzt saß sie in wieder London, arbeitete sich von Constable bis Turner durch. Er mochte Blakes Dante-Illustrationen und Hockneys Grand Canyon Looking North, aber genau so viel Spaß machten ihm Galsworthy und Long, Bansky, die Dame Westwood, Rebecca Horn oder Tracey Emin. Damit konnte seine Frau nicht viel anfangen. Von einer Scheidung wollte sie nicht reden. Kein schöner Zug von ihr. Er brauchte klare Verhältnisse.

Kurz vor dem Weißen Hirsch, am Abzweig Schillerstraße stauten sich die Fahrzeuge, dann ging es flüssig bis zum Parkhotel. Hier müsste er rechts ab zur Sonnleite. Jaro Mandel kurvte noch ein wenig durch die Gassen. An einem bescheidenen Einfamilienhaus hielt er an. Ludger Eberlein stand auf dem Messingschild. Er klingelte und öffnete das Holztürchen im Zaun. Den Hauseingang konnte er nicht entdecken, weil Blautannen den Vorgarten verdunkelten. Erst als er einige Schritte über den grau-schwarzen Plattenweg gegangen war, sah er rechts einen winzigen Anbau mit drei Treppen.
Oben stand ein Mann Ende Fünfzig, straffe Haltung und dürftiges Grauhaar. Sein großer Schädel hatte die kräftigen Züge eines Gebirgsbauern. Er hielt eine Gartenschere in der Rechten und trug abgenutzte Kleidung.
Wollen Sie zu mir?
Hauptkommissar Mandel stellte sich vor, seine Hand zur Begrüßung ausgestreckt. Erst zögernd, dann beinahe erfreut griff der Mann nach dieser Hand. Eberlein, sagte er. Endlich mal jemand, der sich wegen der Autobrände für uns interessiert. Mein Wagen steht in der Garage. Aber unsere Nachbarn haben öfter Besucher mit teuren Karossen. Zweimal ist es in unserer Straße passiert. Zuletzt vor einem Monat. Natürlich haben wir uns beraten. Wir, das ist ein kleiner Verein. Wir gehören wie die Wachwitzer und Loschwitzer zum Sächsischen Heimatbund.
Eberlein redete artikulierend und betont, ein berufener Redner, wahrscheinlich ein Redner von Beruf.
Mandel bat, hineingehen zu dürfen. Falls Ihre Frau zu Hause ist, würde ich gern mit Ihnen beiden sprechen.
Sie haben Glück, dass wir daheim sind. Marions Dienst beginnt halb zwei. Ich bin heute im Home Office.

Er ging im engen Flur voraus, legte die Gartenschere auf den Schuhschrank und öffnete die Tür zu einem Raum, der neben einer altdeutschen Schrankwand voluminöse Polstermöbel und einen Couchtisch mit bestickter Decke gerade so aushielt.
Während Mandel in einen der Sessel sank, rief Ludger Eberlein nach seiner Marion. Die Frau, die darauf hin eintrat, war sicher älter, als sie ausschaute. Zartgelbe Bluse, dunkelblauer Hosenanzug, rotblond gefärbte Haare. Sie erschien im Zimmer wie eine Stewardess in der First Class, hielt ihrem Mann ein Glas und ein Bier entgegen. Was darf ich Ihnen anbieten, Herr …?
Mandel, Hauptkommissar Mandel. Ein Glas Wasser bitte.
Stilles, Medium, mit Sprudel?

Gott, das war nicht sein Tag. Jaro Mandel wartete, bis sich Frau Eberlein ebenfalls setzte, neugierig, freundlich, ein wenig sensationslüstern. Ihr Mann begann wieder, von dem Brand eines Opels auf der Plattleite zu berichten.
Frau Eberlein, Herr Eberlein, ich komme in einer anderen Sache. Ich muss Sie leider darüber informieren, dass wir Ihre Tochter heute Morgen tot aufgefunden haben. In dem Atelier, in dem sie arbeitete. Ich möchte Ihnen mein Beileid versichern.