H wie Herbst

Vier Wochen schon und noch kein Ende, wir stecken mitten im Herbst. Eine Zeit die ein Ende der Reife bedeutet, Ernte des Jahres, ehe wir Bilanz ziehen. Die Traubenlese kommt einer Krönung gleich. Die Schweizer nennen es Wimmet.
Alle Felder wurden abgeerntet, die letzten Obstbäume haben ihre Früchte hergegeben. Lagerhäuser sind gefüllt, die Trauben liegen in den Keltereien und warten auf ihre letzte Bestimmung. Weinbeeren für die Supermärkte, Most für die Säfte.

Die höchste Veredlung erfahren sie in einer Jahrtausende alten Tradition. Gestampft, in Maische vergoren wandelt sich Zucker in Alkohol. Der berauschende Saft wird in Fässer gefüllt, bis er alt genug ist, auf die Tafel zu kommen. So einfach die Transformation von Früchten in Getränke klingt, so vielfältig sind die Rezepte, um die schon Kämpfe geführt wurden.
Seit 7000 Jahren soll es zehntausend Rebsorten gegeben haben. In den alten Kultstätten des Nahen Ostens setzte man schon besondere Gewürze oder Heilmittel zu. In den Kirchen von heute sind die Kulte nur noch verwässert vorhanden. Kein Geheimnis mehr, das Ritual kann sich jede und jeder Gläubige selber schön denken.
Doch wie das mit alten Weisheiten so ist, sind sie nicht tot zu kriegen. Die Alchimie von heute weckt ganz neue Rezepturen.

Mir genügt ein Barolo oder ein Bordeaux, ein Sauvignon oder eine andere Rebe, um meine Lebensgeister zu stärken. Im Sommer ist es der erfrischende Weiße, kühl und manchmal verdünnt. Dieser Herbst gibt allen Grund dazu, sich vor kommenden Härten zu wappnen. Wir gehen jedes Jahr im Herbst einer dunklen Zeit entgegen. Warum scheint dieses Jahr uns besonders finster? Weil wir eine Krise bewältigen müssen, die an unser aller Leben geht. Nie zuvor haben so viele Menschen über Krieg oder Frieden gestritten wie in diesem Jahr über eine harmlose leichte Mund- und Nasenbedeckung, die angeblich die Freiheit des Individuums gefährdet. Hochstilisierte Ideologien in schillernden Farben. Projektionen überall. Ja, der Bauchnabel ist das Zentrum der Welt geworden, aber nur dort, wo es ansonsten in der Mehrheit des Landes keine existentiellen Sorgen gibt, wo ganz ohne Alkohol Jugendwahn tobt, das ewige Leben in einer Cloud versprochen wird und Krank sein als selbst verschuldeter Makel zählt. Nicht zu reden von denen, die vergessen, dass sich klassische Medizin auf höchsten Wissensstand über die Krankenkassen in einem sozial organisierten System abrechnen lässt.

Vor Jahren trugen in den asiatischen Großstädten Menschen Mund- und Nasenschutz aus Gründen, die wir bedauerten. Meist war es der Smog, der die schwachen Bronchien und Lungen gefährdete, aber auch eine herbstliche Grippewelle. Auch in meiner Stadt sah ich Asiaten mit diesem Schutz auf der Straße oder beim Hausarzt. Niemand kam auf die Idee, sich darüber aufzuregen, ebenso wenig, wie man eine Maske genannte Erscheinung im OP-Saal oder auf der Intensiv- oder Infektionsstation anzweifelte. Nun wird monatelang um ein Stück Sicherheit gestritten, als hinge davon die Zukunft des Landes ab. Da bin ich raus, da will ich nicht mehr Für und Wider hören. Wenn ich eine Kerze in meinem Keller sehe, lösche ich sie, bevor ich gehe, ehe das Feuer bis zu mir hochschlägt.

Ich bin dankbar für Sicherheit auf der Straße und im öffentlichen Leben, weil ich verletzbar, sterblich bin. Ich sorge mit einem Wein am Abend vor, den ich mit Kräutern erwärme nach dem Rezept, das ich für mich gefunden habe. Nicht immer mit Knoblauch und stärkeren Mitteln versetzt, denn dann wirkt er im Ernstfall nicht, aber regelmäßig in kleinen Dosen. Das Maß in den Dingen wirkt Wunder. Ich brauchte viele Jahre, um es zu finden. Ich trinke auf Dionysos, den Gott mit den vielen Müttern, der das Leben bejat. Den, der fröhlichen Lärm verbreitet, den Wein der Wahrheit verteilt.