Große Frage in der Coronakrise: Sein oder Nichtsein mit dem Vanitassymbol in der Hand. Hamlet war ein Mann der großen Fragen. Oder war es Shakespeare? War Shakespeare Marlowe? Ähnlichkeiten bis auf dasselbe Geburtsjahr sind unbestritten. Verwirrend, was uns die Geschichte hinterlässt. Manche Geschichten passen nicht in den historischen Prozess. Welche erzählen wir weiter und welche nicht? Warum reden heutige Philosophen, Literaten, Psychologen oder Soziologen von Narrativen, ohne sich darüber klar zu sein, dass das ein alter Hut ist. Einer, den die frühen Kulturen schon in Mode brachten! Die Baghavadgita hatte ebenso ihre Vorläufer-Varianten wie die Bibel, und nur eine hat sich durchgesetzt. Die Mythen der Griechen oder des gesamten afrikanischen Kontinents, die Legenden der Römer und ihrer katholischen Nachfahren sind anfangs nur von Geschichtenerzählern weitergetragen worden. Stille Post von unten nach oben und von oben nach unten als ein Gesellschaftsspiel.
Schriftliche Aufzeichnungen enthielten jeweils Lokal- und Zeitcolorit, Narrative mit Anpassung zum Gebrauch, moralisch mal mehr und mal weniger. Und daraus entwickelten sich je nach Geschmack der Herrschenden die Regeln fürs Volk.
Den Hut setz ich mir auf, oder auch nicht. So leicht lässt sich das bei Geschichten der Macht nicht entscheiden. Im Verfall der Machtstrukturen, in Krisenzeiten passiert das gleiche Chaos wie beim Kölner Karneval. Mit steigender Berauschtheit regiert zunehmend das Chaos. Deshalb dauert Karneval nur ein paar Tage als Ventil. In diesen Tagen kannst du sein, wer du sein willst, tragen, was du möchtest. Und alle wissen, das geht nicht lange gut.
Viele heutige Zeitgenossen glauben ernsthaft, sie könnten sich ihren eigenen Hut aufsetzen. Dafür gibt’s dann die Pauschalisierung zum Aluhut-Träger. Ist aber nicht so. Aluhüte sind kein sinnstiftendes Bild, nur eine Karrikatur, die für Ärger, Wut und Hass sorgt.
Wer sich in der Geschichte der Mode ein wenig auskennt, weiß, wann wer welche Mütze oder Kappe, welchen Zylinder oder Filzhut wann wo und vor allem WARUM getragen hat. Kopfbedeckungen waren jahrtausendelang Zeichen der Würde, wurden als Rangmarkierung, als Zunftkennzeichen, als Herkunftsymbol oder Karrieremerkmal erkannt. Heute darf sich jeder Trottel eine Tiara oder Zarenkrone anfertigen lassen und damit über die Wallstreet oder Champs Élysées, auf den Alex oder den Roten Platz spazieren, ohne dass man ihn köpft.
So scheint es auch mit Narrativen zu funktionieren. Selbst wenn jemand den Holocaust leugnet oder sich für den Heilsbringer ausgibt, wird lange gezögert, auch nur kurz diesen Hut zu lüften. Daraus ergibt sich die Frage, welches Narrativ in uns diese Beliebigkeit ohne Moral hervorbringt. Mit Links oder Rechts oder Mittendrin hat das wenig zu tun. Eher mit Ego-Manie. Wenn über Schizophrenie und Borderline, Asperger und Depression als Krankheit disputiert wird, glaubt jede und jeder Zweite, Dritte mitreden zu können. Man darf heute schließlich alles tragen und sagen. Man darf sogar sagen, dass man nichts mehr sagen darf und tausende greifen in aller Öffentlichkeit dieses Narrativ auf. Ich halte dagegen die Ego-Manie für eine der gefährlichsten Krankheiten des Abendlandes, verursacht in Zeiten des Narrativs von der Freiheit. Individualität entfalten inmitten freier Menschen. Wovon aber sind Egomanen wirklich frei? Von Empathie, sagt man vorschnell. Das mag stimmen, aber das ist nur ein Teil ihrer Mangelwirtschaft. Menschen mit dieser Art Selbst-Bewusstsein halten sich für das Zentrum des Universums. Das trifft auf jede Bildungsschicht, jede gesellschaftliche Schicht zu. Überall in unserer Gesellschaft wächst ihre Zahl. Meine Diagnose von oben, dass sich Narrative ständig anpassen, im Grunde aber nur äußerlich wandeln und immer Kopfbedeckung bleiben, trifft auch hier zu, Wer sich diesen Hut aufsetzt, fürchtet das Wetter und will sich gleichzeitig vor den Urteil anderer schützen. Zwei Dinge hindern uns, Mut zu zeigen, ein wahres Individuum zu sein. Das eine ist der Glaube daran, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Das andere ist unser Misstrauen gegenüber unseren oft recht grausamen Mitbürgern gegenüber, unsere Furcht vor der Unberechenbarkeit der Natur und alles Lebendigen. Wir hätten so gerne Sicherheiten. Und die sollen uns die Anderen gewähren.
Da ist er, der Regenschirm mit Löchern, Sicherheit, Wohlstand und Schutz findet man in der Gemeinschaft. Darin mischen sich nicht nur Gleichgesinnte. Sein oder Nichtsein ist eine Frage von Leben und Tod, keine Glaubensfrage, kein beliebiges Narrativ. Wie heilig ist ein Individuum in der Gesellschaft, in der man permanent Kriege führt, mit immer extremeren Mitteln, ohne den Krieg in sich selbst zu beenden? An Wissen fehlt es in einer digitalisierten Welt nicht, nur an Weisheit. Sich selbst bewusst werden, dass ein Selbst nie ohne die Anderen funktioniert und es ein uraltes ethisches Narrativ dafür gibt, könnte der Durchbruch zur Transformation werden. Bewusstsein wäre das nächste Thema. Was auch immer es ist, die Inhalte schaffen Persönlichkeiten. Die mit Zylinder oder Aluhut ebenso wie die mit Basecap oder Kopftuch. Sogar die mit Tarnkappen. Ich bevorzuge es, meinen Kopf frei zu halten.